Feinstaubdebatte beschäftigt Bundespolitik

Berlin – Sind die Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxid in Städten wissenschaftlich zu rechtfertigen? Mit ihrer Kritik haben gestern mehr als 100 Lungenspezialisten die Debatte um Fahrverbote neu entfacht. Die geht heute in die nächste Runde.
„Wir brauchen eine ganzheitliche Sichtweise“, sagte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) heute im ARD-Morgenmagazin. „Wenn über 100 Wissenschaftler sich zusammenschließen, ist das schon einmal ein Signal.“ Kritik kam auch vom Deutschen Anwaltsverein, der die Dieselfahrverbote als Eingriff in die Grundrechte bezeichnete. Das Bundesumweltministerium und die Grünen wiesen die Kritik der Lungenärzte unterdessen zurück.
Die Gruppe von Lungenspezialisten zweifelt den gesundheitlichen Nutzen der geltenden Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide (NOX) an. Sie sähen keine wissenschaftliche Begründung, die die geltenden Obergrenzen rechtfertigen würde, heißt es in einer Stellungnahme.
Mit ihrem Vorstoß stellten sich die Lungenärzte auch gegen ein Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), das 2018 veröffentlicht worden war. Darin hieß es: „Studien zeigen, dass die Feinstaubbelastung durch Landwirtschaft, Industrie und Verkehr gesundheitsschädlich ist.“ Die DGP, die Deutsche Lungenstiftung und der Verband Pneumologischer Kliniken erklärten gestern, der Vorstoß werde als Anstoß für nötige Forschungen und eine kritische Überprüfung betrachtet.
Die Grenzwerte sind Grundlage für Dieselfahrverbote. In der EU gilt für Stickstoffdioxid ein Jahresmittelwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter, für Feinstaub sind es Werte je nach Partikelgröße. Nach einem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts können Kommunen, in denen die Grenzwerte überschritten werden, strecken- oder zonenbezogene Fahrverbote gegen Diesel verhängen.
Scheuer sagte, die EU gebe die Möglichkeit, Grenzwertmessstationen auch dort zu platzieren, wo die Schadstoffemissionen nicht am höchsten sind. Dies hält er für „eine vernünftige Herangehensweise an die Grenzwerte“.
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat die Dieselfahrverbote in Städten derweil scharf kritisiert. Die Verbote schränkten viele Privatleute und Gewerbetreibende in ihrer grundgesetzlich garantierten persönlichen und beruflichen Freiheit ein, sagte Andreas Krämer von der DAV-Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht.
Der Grenzwert von 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel erscheine irrational, sagte der Rechtsanwalt auf dem Verkehrsgerichtstag in Goslar. Er sei vollkommen willkürlich gewählt. An vielen Arbeitsplätzen herrsche eine höhere Schadstoffbelastung.
Ablenkungsmanöver
Bundesumweltministerin Svenja Schulze wies die Kritik der Lungenärzte zurück. Die Grenzwerte dienten dem Schutz aller Menschen, sagte die SPD-Politikerin dem Handelsblatt. Die große Mehrheit der Städte schaffe es auch, die Grenzwerte einzuhalten. „Nur dort, wo besonders viel Verkehr ist, gibt es Probleme mit Stickoxiden“, sagte die Ministerin. Es gebe „also kein Grenzwertproblem, sondern ein Diesel- und Verkehrsproblem, das wir zum Beispiel mit Hardware-Nachrüstungen lösen können“. Davon lenke die Debatte ab. Sie sei erstaunt, dass sich manche Ärzte in den Dienst eines solchen „Ablenkungsmanövers“ stellten.
Der Staatssekretär im Bundesumweltministerium, Jochen Flasbarth, sagte dem rbb-„Inforadio“ die geltenden Grenzwerte seien das Ergebnis vieler Studien. Sie zeigten, dass es einen Zusammenhang zwischen Luftschadstoffen und Lungen- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen gebe. Bei der Ärztekritik handle es sich um eine rein politische Erklärung und nicht um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung. „Seit 2010 sind diese Grenzwerte einzuhalten. Das tun wir nicht, aber nicht deshalb, weil die Grenzwerte falsch sind, sondern weil die Industrie dreckige Autos verkauft hat und weil die Verkehrspolitik tatenlos zugeguckt hat“, sagte Flasbarth.
Anton Hofreiter, Fraktionsvorsitzender der Grünen, erklärte, in der Debatte würden seltsame Vergleiche gezogen. „Wenn es heißt, dass es zwar Tote durch Lungenkrebs gebe, jedoch nicht durch Feinstaub oder Stickoxid, dann ist das irreführend: Auch ein Raucher stirbt nicht am Rauch selbst, sondern an den Folgen, ob das Lungenkrebs oder Herzinfarkt ist.“
Während der Einzelne sich bewusst gegen das Rauchen entscheiden könne, sei er den schädlichen Stoffen an Straßen schutzlos ausgeliefert, so Hofreiter. Die Politik habe die Aufgabe, Risiken zu minimieren und die Bürger vor Gefahren zu schützen. Die Gefahr treffe besonders Kinder, Schwangere und Ältere an viel befahrenen Straßen. „Wer das nicht ernstnimmt, handelt fahrlässig.“
Grenzwerte eher zu hoch
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hält eine mögliche Aussetzung des Feinstaubgrenzwertes für verantwortungslos. „Wir haben keine Studien, die derzeit die Gefährdung infrage stellen würden. Im Gegenteil – die neueren Studien zeigen, dass die Grenzwerte eher zu hoch als zu niedrig sind“, sagte Lauterbach MDR-Aktuell. Und: „Ich bitte hier gerade den Schutz von älteren Menschen und von Kindern zu beachten.“
Er halte es für ausgeschlossen, dass deutsche Lungenärzte den europäischen Grenzwert beeinflussen könnten – „insbesondere, wenn es sich um eine Position handelt, die international von Wissenschaftlern nicht geteilt wird“.
FDP-Chef Christian Lindner sprach sich für ein „Moratorium“ aus. „Es wäre politisch fahrlässig, aufgrund wissenschaftlich umstrittener und vielleicht nicht haltbarer Grenzwerte Fahrverbote und Milliardenschäden hinzunehmen“, erklärte Lindner auf Twitter. Die große Koalition müsse sich „gegenüber der EU für ein Moratorium für Stickoxidgrenzwerte einsetzen, bis Klarheit herrscht“, forderte er.
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