Schadstoffdebatte spaltet Regierung

Berlin/Brüssel – Die von Pneumologen angestoßene Debatte um Luftschadstoffgrenzwerte in Deutschland geht in die nächste Runde. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) zog die Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide (NOx) heute erneut in Zweifel. Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) warnte hingegen davor, die Menschen mit verdrehten Fakten zu verunsichern.
Eine Gruppe von mehr als 100 Lungenfachärzten um Dieter Köhler, den ehemaligen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) und den Pneumologen Martin Hetzel, Geschäftsführer des Verbands Pneumologischer Kliniken, hatte die Grenzwerte für Stickstoffdioxide in der vergangenen Woche als unwissenschaftlich angezweifelt. Die Stellungnahme der Gruppe, die nur einen Bruchteil der Pneumologen in Deutschland darstellt, richtet sich auch gegen eine Position der DGP.
Aktuellen Medienberichten zufolge waren gemeinsam mit Köhler und Hetzel zwei Ingenieure – Matthias Klingner, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Verkehrs- und Infrastruktursysteme, und Thomas Koch, Leiter des Karlsruher Instituts für Kolbenmaschinen – an der Erarbeitung der Stellungnahme beteiligt. Koch soll zehn Jahre in der Daimler-Motorenentwicklung tätig gewesen sein.
Die Bundesregierung kündigte heute an, die unterschiedlichen Positionen überprüfen zu wollen. Für eine Versachlichung der Thematik sei man derzeit mit der Leopoldina als Nationaler Akademie der Wissenschaften im Gespräch, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert in der Regierungspressekonferenz in Berlin mit.
Schulze gegen Neubewertung
Eine unabhängige Neubewertung wissenschaftlicher Studien zu NOx und Feinstaub will Bundesumweltministerin Schulze hingegen nicht unterstützen. Denn schon jetzt würden diese Grenzwerte regelmäßig überprüft. Zuletzt sei das 2013 erfolgt. Aktuell führe die Europäische Union wieder einen „Fitness Check“ für die europäische Richtlinie zur Luftreinheit durch, sagte Schulze heute in Berlin.
Schulze warnte vor einer „Scheindebatte um Grenzwerte“ und forderte vom Bundesverkehrsministerium, den Druck auf die Automobilindustrie zwecks der Diesel-Pkw-Nachrüstung zu erhöhen. Auch Maria Krautzberger, Präsidentin des Umweltbundesamtes, zeigte sich überzeugt, den Diesel-Pkw-Ansatz zu verfolgen. Immerhin würden diese Fahrzeuge einen Anteil von mindestens 70 Prozent an den Stickstoffdioxid-Emissionen verschulden.
Ganz anders ordnete Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) die Kritik der letzten Woche ein: „Wir müssen die Logik der Grenzwerte schon hinterfragen“, sagte Scheuer in München. „Wenn Experten, die damals über die WHO diese Grenzwerte mit errechnet haben oder festgelegt haben oder empfohlen haben, von willkürlichen Grenzwerten sprechen oder politisch festgesetzten Werten, dann ist das natürlich ein Alarmsignal“, sagte er.
Denn die Einschränkungen seien nun für die Bürger spürbar. Man müsse auch über verschiedene Arten von Standorten von Messstellen in Europa diskutieren. Nirgendwo sonst würden die Werte so gemessen wie in Deutschland. Deswegen würden ja auch die Standorte nun überprüft.
Die CDU-Spitze plädierte heute ebenfalls für eine Überprüfungen der Lage der Messeinrichtungen sowie der Verhältnismäßigkeit von Fahrverboten bei Grenzwertüberschreitungen. „Wenn ich am Ende – überspitzt gesagt – direkt das Messgerät in den Auspuff halte, dann ist das nicht repräsentativ für die Luft in einer Stadt“, sagte CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak. Die Automobilindustrie sprach sich ebenfalls dafür aus, die Grundlage der Grenzwerte und die Standorte der Messstellen zu hinterfragen.
Wissenschaftstreit: Internationaler Widerspruch
Internationale Wissenschaftler widersprachen heute der Gruppe deutscher Lungenärzte, auf die sich Scheuer beruft. 14 Repräsentanten eines weltweiten Zusammenschlusses der führenden Gesellschaften für Lungengesundheit mit mehr als 70.000 Mitgliedern wandten sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gegen eine Aufweichung der Stickoxid- und Feinstaubgrenzwerte. „Schädliche Auswirkungen der Luftverschmutzung bestehen sogar unterhalb der internationalen Grenzwerte“, heißt es in der Stellungnahme der Wissenschaftler.
„Akute Effekte zeigen den sichtbarsten Effekt, Langzeitexposition erzeugt hingegen chronische Veränderungen, die langfristig tödlich sein können: Krebs, Herzkrankheiten, Schädigungen des Neugeborenen und Demenz sind mit Luftverschmutzung assoziiert“, warnten die Wissenschaftler. Die Standards seien so gewählt worden, „dass selbst für chronisch Kranke wesentliche negative Effekte auf die Gesundheit ausgeschlossen werden können“.
Bundesverband der Pneumologen sieht Marker für schlechte Luft
Eine weitere Organisation deutscher Lungenärzte, der Bundesverband der Pneumologen, Schlaf- und Beatmungsmediziner (BdP), hatte jüngst eine Onlineumfrage unter seinen Mitgliedern veröffentlicht, wonach 91 Prozent der befragten Ärzte von der Politik eine möglichst weitgehende Herabsetzung der Luftbelastung fordern.
Mehr als drei Viertel der antwortenden Mitglieder sehen demnach in Stickoxiden einen Marker für schlechte Luft, der stellvertretend auch für die übrigen, oft wesentlich gefährlicheren Schadstoffe stehe. Ein Großteil der Befragten sei der Ansicht, dass eine Diskussion über die Methodik von Studien nicht zu einer Bagatellisierung der Auswirkungen von Luftverschmutzung führen dürfe, teilte der BdP mit. Vielmehr müsse die umstrittene Beweislage zu verbesserten Beweisen führen.
Jeder müsse ein Recht auf möglichst schadstoffarme Luft haben – schließlich sei ein freiwilliger Verzicht anders als etwa bei Zigaretten nicht möglich, hieß es vom BdP. „Verstörend ist es, wenn Ärzte nicht eindeutig für saubere Luft für Patienten und Gesunde eintreten.“
EU sieht derzeit keinen Korrekurbedarf
Dass die von der EU vorgeschriebenen Grenzwerte kurzfristig geändert und Fahrverbote damit vermieden werden, ist kaum wahrscheinlich. „Ein EU-Rahmengestz kann nur vom europäischen Gesetzgeber geändert werden“, erklärte Christian Calliess heute in Berlin. Den Zeitrahmen einer solchen Änderung kann der Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Freien Universität Berlin nur schwer einschätzen. Ein Jahr hält er „für schnell“. Aufgrund der anstehenden Wahlen zum europäischen Parlament könne die aktuelle Juncker-Kommission aber gar keine neuen Regelungen mehr vorschlagen, sagt Calliess.
Die EU-Kommission will sich inhaltlich nicht festlegen. „Wir bleiben immer offen für neue Erkenntnisse“, sagte ein Sprecher. EU-Umweltkommissar Karmenu Vella hatte aber bereits deutlich gemacht, was er vom Vorstoß der 100 deutschen Lungenärzte hielt: wenig. Er verwies auf „solide wissenschaftliche Erkenntnis“ als Grundlage der EU-Grenzwerte.
Vella machte auch klar, dass er nicht wegen der aufgeworfenen Fragen auf Einhaltung der Grenzwerte verzichten will. „Die bestehenden Regeln bedeuten, dass bei einer Überschreitung der Grenzwerte dringendes Handeln zur Verbesserung der Luftqualität und zum Schutz der Gesundheit der Bürger geboten sind“, ergänzte Vellas Sprecher auf Nachfrage.
Genau deshalb hat die EU-Kommission Deutschland beim Europäischen Gerichtshof 2018 wegen Grenzwertüberschreitungen verklagt (Aktenzeichen C-635/18). Beim EuGH mahlen die Mühlen allerdings ebenso langsam wie in anderen EU-Institutionen. Eine Verhandlung sei noch nicht terminiert, sagte ein Gerichtssprecher heute.
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