Genderdysphorie: England schränkt Verordnung von Pubertätsblockern ein
London – In England dürfen Pubertätsblocker, die die sexuelle Reifung von Jungen und Mädchen vorübergehend stoppen, nur noch im Rahmen von klinischen Studien verordnet werden. Dies hat der National Health Service (NHS) des Landes beschlossen. Den betroffenen Patienten mit Genderdysphorie wird primär zu einer psychologischen Behandlung geraten.
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die sich in ihrem biologischen Geschlecht nicht zuhause fühlen, ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen.
Wenn diese Genderinkongruenz oder -dysphorie vor der Pubertät auftritt, ist es möglich, die weitere Entwicklung des weiblichen oder männlichen Geschlechts durch Analoga des Gonadotropin-Releasing-Hormons (GnRH) zu stoppen. Später kann die Entwicklung durch Östrogene oder Testosteron gezielt in Richtung eines weiblichen oder männlichen Phänotyps beeinflusst werden.
Das Interesse an dieser Therapie, aber auch die medizinischen Bedenken zu möglichen Langzeitfolgen haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. In England hatten sich im Jahr 2011 erst 250 Mädchen und Jungen an den „Tavistock Gender Identity Development Service“ in London gewandt. Im Jahr 2021 waren es etwa 5.000.
Der NHS hat daraufhin im August vergangenen Jahres die einzige Genderklinik in ganz England, die Transformationstherapien für Kinder mit einer Genderdysphorie anbietet, geschlossen. Dies geschah weniger aufgrund einer Überlastung der Klinik. Hillary Cass, die frühere Präsidentin des Royal College of Paediatricians and Child Care hatte in einem Report Vorwürfe gegen die allzu „affirmative“ Bereitschaft zum Einsatz von Pubertätsblockern erhoben.
Der NHS hat dann im Oktober einen Entwurf für eine neue Behandlungsrichtlinie öffentlich zur Diskussion gestellt. Am letzten Freitag wurden die neuen „interim service specification“ verkündet. Sie legen fest, dass eine Behandlung mit Pubertätsblockern künftig nur noch im Rahmen einer klinischen Studie erfolgen soll. Diese Studie soll im nächsten Jahr beginnen.
In der Zwischenzeit soll die Behandlung in einer psychosozialen (einschließlich Psychoedukation) und psychologischen Unterstützung und Intervention bestehen mit dem Hauptziel, die mit der Geschlechterinkongruenz verbundene Belastung zu lindern und die allgemeine Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden des Einzelnen zu fördern.
Als Grund für die Restriktionen werden die fehlenden Erkenntnisse zu der Behandlung mit Pubertätsblockern genannt. Auch würde ein erheblicher Anteil der betroffenen Kinder und Jugendlichen unter psychischen Problemen oder neurologischen Entwicklungsstörungen leiden und/oder in einem schwierigen familiären oder sozialen Umfeld aufwachsen, die nach Ansicht des NHS den Wunsch nach einer Behandlung fördern könnten. Diese Problematik werde häufig erst nach einer sorgfältigen Untersuchung erkannt, weshalb ein primär psychotherapeutischer Ansatz gewählt werden sollte.
Die Behandlung mit Pubertätsblockern ist auch in anderen Ländern umstritten. Eingeführt wurde sie zunächst in den Niederlanden, wo die Behandlung seit den 1990er Jahren möglich ist. Annelou de Vries von der Vrije Universiteit Amsterdam und Mitarbeiter hatten im Journal of Sexual Medicine (2011; DOI: 10.1111/j.1743-6109.2010.01943.x) über positive Erfahrungen an den ersten 70 Kindern und Jugendlichen berichtet: Alle schlossen die Behandlung mit den Pubertätsblockern ab und entschieden sich danach für eine „Cross-Sex“-Therapie mit Östrogen oder Testosteron.
Polly Carmichael von der Tavistock-Klinik in London und Mitarbeiter berichteten kürzlich über die Erfahrungen an 44 Patienten, von denen sich 43 nach dem Abschluss der Pubertätsblockade für eine „Cross-Sex“-Hormontherapie entschieden. Die Pubertätsblockade hatte allerdings keinen Einfluss auf die psychologischen Probleme der Patienten gehabt (PLOS ONE 2021; DOI: 10.1371/journal.pone.0243894), was Zweifel an der erfolgreichen Behandlung der Genderdysphorie zulässt, wenn die psychische Erkrankung in den Vordergrund gestellt wird.
Die kürzlich im New England Journal of Medicine (2023; DOI: 10.1056/NEJMoa2206297) vorgestellten Erfahrungen aus 4 US-Zentren zeigen dagegen, dass sich unter einer „Cross-Sex“-Hormontherapie Depressionen und Angstzustände bessern können. Es gab allerdings auch Patienten, die mit der Behandlung nicht glücklich wurden: 11 (3,5%) berichteten über Selbstmordgedanken und 2 starben an einem Suizid.
Neben England haben auch Finnland und Schweden den Einsatz von Pubertätsblockern auf klinische Studien beschränkt. In Norwegen und Frankreich sollen in Expertengremien aktualisierte Leitlinien erstellt werden. Das Bundesfamilienministerium teilte im Oktober vergangenen Jahres mit, die Entscheidung über die Verschreibung von Pubertätsblockern liege ausschließlich im Ermessen der behandelnden Fachärztinnen und -ärzte.
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