Gesundheitsfachkräfte berichten zunehmend von Übergriffen

Rostock – Beleidigungen, Bedrohungen, körperliche Attacken: Für Fachkräfte im Gesundheitswesen gehört dies inzwischen zum Arbeitsalltag. Das verdeutlichen mehrere Umfragen, die in den vergangenen Tagen vorgelegt worden sind. Das Thema beschäftigt bundesweit mittlerweile Ärztekammern und Politik.
In einer Umfrage des Instituts Yougov im Auftrag von Doctolib unter mehr als tausend Ärzten, Pflegekräften und Medizinischen Fachangestellten (MFA) gaben 75 Prozent an, im vorangegangenen Jahr mindestens einmal mit Gewalt oder Konfliktsituationen konfrontiert gewesen zu sein. Solche Erfahrungen haben demnach auch psychische Auswirkungen – von Angst und Unsicherheit bis hin zum Nachdenken über einen Berufswechsel.
Zwei Drittel der Befragten (66 Prozent) erlebten der Umfrage zufolge verbale Aggressionen und Beleidigungen durch Patienten. 38 Prozent gaben an, in den vorangegangenen zwölf Monaten zum Ziel von Bedrohungen geworden zu sein. Jede vierte Fachkraft war sogar körperlicher Gewalt ausgesetzt.
Als „besonders alarmierend in Zeiten des Fachkräftemangels“ werteten es die Autoren, dass nach Gewalterfahrungen die Zweifel an der Berufswahl wachsen – bei jüngeren Beschäftigten (25 bis 34 Jahre) mit 32 Prozent doppelt so häufig wie bei älteren Kolleginnen und Kollegen ab 55 Jahren mit 16 Prozent.
Die psychischen Folgen waren erheblich. Zwei Drittel (67 Prozent) berichten von Wut über fehlenden Respekt. Männer entwickeln zudem noch häufiger Angst und Unsicherheit am Arbeitsplatz als Frauen (39 Prozent beziehungsweise 35 Prozent) und erwägen einen Jobwechsel (27 beziehungsweise 21 Prozent).
46 Prozent der Befragten machten für die Übergriffe „Halbwissen der Menschen, die ihre Erwartungen nicht bestätigt sehen“, verantwortlich, 42 Prozent lange Wartezeiten. In Arztpraxen dominierten als vermutete Ursachen organisatorische Faktoren wie Wartezeiten (51 Prozent) und Terminprobleme (47 Prozent), in Kliniken stand die „Überforderung mit der Krankheit/Verletzung“ im Vordergrund (45 Prozent).
Vor allem junge Ärztinnen betroffen
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Umfrage der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern (ÄKMV) unter ihren Mitgliedern. Der Kammer zufolge die „erschreckende Zunahme von Gewalt“ gegen Ärztinnen und Ärzte sowie medizinisches Personal im Land eine besorgniserregende Entwicklung. An der Umfrage im Juli und August hatten sich 12,3 Prozent aller berufstätigen Ärzte im Land beteiligt.
Mehr als jede und jeder Zweite (57 Prozent) berichtet demnach von psychischer, knapp jede und jeder Fünfte (19 Prozent) von körperlicher Gewalt durch Patientinnen und Patienten. Besonders im stationären Bereich sind die Zahlen erschütternd: Dort haben 30 Prozent der Umfrageteilnehmer körperliche Übergriffe erlebt – 13 Prozent sogar ausgeprägte körperliche Gewalt wie schlagen, treten, würgen und beißen, wie die Kammer mitteilte.
Junge Ärztinnen und Ärzte unter 40 Jahren sind besonders häufig betroffen. In dieser Altersgruppe berichten 70 Prozent von Gewalterfahrungen innerhalb des vergangenen Jahres, ein Drittel davon sowohl von körperlicher als auch psychischer Art. Darunter bei fünf Prozent der Ärztinnen und Ärzte auch körperliche sexualisierte Gewalt.
„Diese Zahlen zeigen, dass Gewalt gegen medizinisches Personal kein Einzelfall und kein Randthema mehr ist“, betonte Jens Placke, Präsident der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern. „Wenn Ärztinnen und Ärzte in ihrem Arbeitsalltag bedroht, beleidigt oder gar angegriffen werden, gefährdet das nicht nur ihre Sicherheit, sondern auch die Versorgung der Patientinnen und Patienten.“ Betroffen seien auch das medizinische Personal wie Medizinische Fachangestellte oder Pflegepersonal.
Fast die Hälfte der Befragten nimmt dabei eine deutliche Zunahme von Aggression in den vergangenen fünf Jahren wahr. Als Gründe nennen die Befragten unter anderem Frust, psychische Probleme oder Suchtverhalten der Patientinnen und Patienten. Einige Befragte hatten demnach schon mehrmals die Polizei oder Sicherheitsdienste alarmiert. Die Mehrheit (81 Prozent) der Mediziner in der Studie berichten allerdings, dass Sie durch ein deeskalierendes Gespräch versucht hätten, den Konflikt zu lösen.
Gewaltprävention verstärkt angehen
Die Ärztekammer in Mecklenburg-Vorpommern plant jetzt, das Thema Gewaltprävention verstärkt anzugehen. Sie sieht aber auch dringenden Handlungsbedarf bei den Politikern. „Gewalt zu verhindern ist keine Aufgabe, die allein die Ärzteschaft lösen kann“, erklärte Johannes Buchmann, Vizepräsident der Ärztekammer. Es sei eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung – von Politik, Justiz, Gesundheitsinstitutionen und der gesamten Bevölkerung. „Ärztinnen und Ärzte brauchen Rückhalt, Respekt und Sicherheit in ihrer täglichen Arbeit.“
Mecklenburg-Vorpommerns Gesundheitsministerin Stefanie Drese (SPD) fordert angesichts der Studienergebnisse, der Gewalt gegen Mitarbeitende in der Gesundheitsversorgung mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu widmen. „Es ist das Verdienst der Ärztekammer, mit der Umfrage Sichtbarkeit zu erzeugen“, so Drese. Das sei ein wichtiger Schritt, um Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten und zur Prävention zu entwickeln.
Die Ministerin betonte, dass „Verbalattacken, Bedrohungen bis hin zu körperlichen Übergriffen zur traurigen Realität im Arbeitsalltag“ vieler Ärztinnen und Ärzte und beim Pflegepersonal gehörten.
Laut Drese beschäftigen sich aktuell auch andere Bundesländer mit der zunehmenden Zahl der Angriffe auf Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegepersonal. Morgen stehe ein entsprechender Antrag auf der Tagesordnung des Bundesrates. Der Schutz der Einrichtungen der Gesundheitsversorgung und ihrer Mitarbeitenden müsse verbessert werden. Dabei gehe es sowohl um Strafverfolgung als auch um Prävention.
In Nordrhein-Westfalen (NRW) haben jüngst die Ärztekammern, das Klinikum Leverkusen und Experten der Polizei Recklinghausen im landesweiten Präventionsnetzwerk „Sicher im Dienst“ ein Deeskalationstraining entwickelt, das auf die Anforderungen in der Patientenversorgung abgestimmt ist und Beschäftigte in Krankenhäusern, Arztpraxen und anderen Gesundheitseinrichtungen im Umgang mit aggressivem Verhalten schult.
„Gewalt darf kein normaler Teil des Berufsalltags im Gesundheitswesen sein“, betonte Sven Dreyer, Präsident der Ärztekammer Nordrhein (ÄKNO) bei der Präsentation des neuen Curriculums zur Ausbildung von Deeskalationstrainern. „Ein wirksamer Schutz vor Gewalt beginnt bei der Analyse des Problems, geht über gezielte Schulungen und präventive Maßnahmen und endet bei der klaren Feststellung, dass die Gewalttäter nicht nur ihren individuellen Opfern schaden, sondern dem Gesundheitssystem und damit der Gesellschaft insgesamt.“
„Die Hemmschwelle für aggressives oder beleidigendes Verhalten sinkt und die Gewaltbereitschaft nimmt zu. Diese Gewalterfahrungen belasten viele Kolleginnen und Kollegen massiv“, unterstrich Johannes Albert Gehle, Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe (ÄKWL).
„Deshalb muss der Schutz ausgeweitet und Gewalttaten müssen konsequent angezeigt und strafrechtlich verfolgt werden. Es ist nicht zu verstehen, warum bislang gerade die ambulante und stationäre Patientenversorgung vom besonderen Schutz durch das Strafrecht ausgenommen ist. Aber wir müssen auch selbst, wie wir es nun mit dem Deeskalationstraining tun, die Initiative ergreifen, um der Gewalt entgegen zu wirken.“
Die Ampelregierung hatte bereits an einer Gesetzesverschärfung gearbeitet, die es aber nicht mehr durch das parlamentarische Verfahren geschafft hatte. Auch das SPD-geführte Bundesjustizministerium (BMJV) arbeitet gerade an einer Verschärfung. Wie genau diese aussehen soll, ist aber noch unklar.
Eine Gesetzesverschärfung fand in der Yougov-Erhebung Zustimmung bei etwa zwei Dritteln der Befragten. Konkret forderten die Befragten aber auch mehr Sicherheitspersonal in Gesundheitseinrichtungen (47 Prozent), Aufklärungskampagnen für Patienten über respektvolles Verhalten (46 Prozent) und psychologische Betreuung nach Gewalterfahrungen (46 Prozent).
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