Immunflucht bei BA.2.75 vermutlich weniger ausgeprägt als bei BA.4/5

Columbus – Die neue Omikron-Sublinie BA.2.75, die in den sozialen Medien auch „Centaurus“ genannt wird, hat aufgrund ihrer Mutationen in der Rezeptorbindungsdomäne (RBD) viel Raum für Spekulationen über eine weitere Immunflucht gegeben.
Daten der Ohio State University zeigen aber, dass BA.2.75 dem Immunsystem schlechter ausweicht als BA.4/5. Die noch nicht begutachtete Studie ist als Preprint in BioRxiV erscheinen (DOI: 10.1101/2022.08.14.503921).
Bei der Analyse von Blutsera fiel die neutralisierende Wirkung von Antikörpern bei BA.2.75 schlechter aus als noch bei BA.2.
Im Vergleich zur derzeit dominaten BA.4/5-Sublinie bestätigte sich jedoch eher eine Abschwächung der Neutralisierungsresistenz (3,8-fach; im Vergleich zu einer BA.2-Vorläufer-Virusvariante mit D614G-Mutation im S).
Der Impfstatus spielte bei der Neutralisierung eine Rolle: Zwar konnten die Blutsera ungeimpfter Teilnehmer BA.2.75, BA.2 und D614G vergleichbar gut neutralisieren; bei geimpften Patienten (2 Dosen) konnte BA.2.75 jedoch 2,3-mal weniger effizient neutralisiert werden als D614G. Bei geimpften Patienten, die bereits 3 Dosen erhalten hatten, war die Neutralisiation 4,9-mal weniger effizient.
Vor allem die Mutationen G446S und N460K von BA.2.75 waren für die erhöhte Resistenz gegen neutralisierende Antikörper verantwortlich. Die R493Q-Mutation, eine Rückkehr zur ursprünglichen Sequenz, verringerte die Neutralisierungsresistenz von BA.2.75 hingegen.
Zellfusion verschlechtert sich im Vergleich zu BA.4/5
Darüber hinaus zeigte die BA.2.75-Variante im Vergleich zu BA.2 eine verstärkte Zell-Zell-Bindung, was die Forschenden hauptsächlich auf die N460K-Mutation zurückführen. Aus der Strukturmodellierung ließ sich ein neuer Rezeptorkontakt ableiten, der durch N460K eingeführt wurde, was die verstärkte Rezeptorbindung erklären würde.
Im Vergleich zu BA.4/5 war die durch das Spike-Protrein vermittelte Bindung an die Zelle jedoch herabgesetzt.
Die Forschenden hatten im Blutserum von 45 Teilnehmden die neutralisierenden Antikörper von BA.2.75 untersucht. Darüber hinaus analysierten sie die BA.2.75-Infektiosität, die Prozessierung des Spike-Proteins und die Fusion mit der Zielzelle. Insgesamt hatten 15 3-fach mRNA-geimpfte Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen teilgenommen und 30 BA.1-infizierte Personen, von denen 14 nicht geimpft waren.
BA.2.75 nicht nur in Indien auf Vormarsch
BA.2.75 wurde in mehr als 20 Ländern weltweit entdeckt, vor allem aber in Indien. Es gilt nun abzuwarten, ob sich die Fallzahlen nach der BA.5-Welle wesentlich erhöhen werden.

Tom Wenseleers, Evolutionsbiologe an der Katholischen Universität Leuven in Belgien spricht BA.2.75 einen „ziemlich großen“ Übertragungsvorteil gegenüber BA.5 in Indien zu.
„Dies würde definitiv eine Infektionswelle auslösen“, zitierte ihn Nature. Die Zahl der bestätigten Infektionen sei in ganz Indien gestiegen, stellte Wenseleers fest, ebenso wie der Prozentsatz der Tests, die positiv ausfallen.
Auf Twitter teilte der Forscher vergangene Woche Genomdaten von GISAID, einer weltweiten Wissenschaftsinitiative, und kommentierte: Die Omikron-Subvariante BA.2.75 könnte in Teilen Asiens und Ozeaniens dominant werden, während BA.4.6 in Europa, dem Nahen Osten und Nordamerika eine gewisse Konkurrenz darstelle.
Der US-amerikanische Kardiologe und Autor Eric Topol, MD vom Scripps Research Institute in La Jolla bezeichnete BA.2.75 im Juli auf Twitter noch als „Schreckgespenst“, das sich ausschließlich in einigen indischen Provinzen verbreiten würde.
„BA.4/5. scheint (in Indien) auf dem Rückzug zu sein, während BA.2.75 die Führung übernimmt“, twitterte der Datenspezialist Mike Honey aus Melbourne vor 3 Tagen. Das Wachstum habe sich in Indien beschleunigt, die neue Sublinie dominiere deutlich – mit einer Häufigkeit bis zu 52 %.
In Singapur wären es bereits 8 %. „In Singapur weist BA.2.75 einen Wachstumsvorteil von 6 % pro Tag gegenüber allen BA.4/5.-Linien auf“, schrieb Honey und prognostizierte eine BA.2.75-Dominanz in einigen Wochen.
Auch in Australien sei BA.2.75 auf dem Vormarsch, so der Datenanalyst. Australien scheine der erste Ort in der Welt zu sein, an dem BA.2.75 gegen BA.4.6 antrete. Es sei aber noch zu früh, um eine endgültige Aussage zu treffen, das Diagramm sei sehr uneinheitlich. Bisher habe B.4.6 einen Wachstumsvorteil von 3 % pro Tag gegenüber BA.2.75, schrieb Honey am 12. August.
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