Ärzteschaft

„In der gynäkologischen Weiterbildung nimmt die Urogynäkologie noch keinen sehr prominenten Platz ein“

  • Mittwoch, 18. Januar 2023

Berlin – Die demografische Entwicklung in Deutschland stellt in der Medizin viele Fachgebiete vor große Herausfor­derungen. Warum das in der Urogynäko­logie so ist, darüber sprach das Deutsche Ärzteblatt mit Clara Winter, Ärztin in Weiterbildung im St. Elisabeth-Krankenhaus Leipzig.

Clara Winter /Clara Winter
Clara Winter /Clara Winter

Fünf Fragen an Clara Winter, Ärztin in Weiterbildung im St. Elisabeth-Krankenhaus Leipzig

Deutsches Ärzteblatt: Warum wächst absehbar der Bedarf an uro­gynä­kologisch gut geschulten Medizinerinnen und Medizinern?
Clara Winter: Schätzungsweise leidet eine von drei Frauen mit zu­nehmendem Alter an Beckenbodenbeschwerden (JCE 2000; DOI: 10.1016/S0895-4356(00)00232-81).

Die aktuelle demografische Entwicklung unterstreicht die Relevanz der Urogynäkologie, denn sowohl eine alternde Population als auch eine Zunahme an Adipositas werden als Risikofaktoren für den Zu­wachs an urogynäkologischen Beschwerden gesehen.

Aber nicht nur ältere, auch schon junge Frauen und jene in den mittleren Lebensabschnitten leiden unter Beckenbodenproblemen. So wird in der Schwangerschaft eine Harninkontinenzprävalenz von mehr als 40 % angenommen (Int Urogynecol J 2021; DOI: 10.1007/s00192-020-04636-3). Ist eine Frau in der Schwangerschaft bereits harninkon­tinent, besteht ein hohes Risiko für eine postpartale Inkontinenz. Frauen mit Risikofaktoren gilt es somit zu identifizieren und gezielte Präventionsmaßnahmen anzubieten, was von großer Bedeutung für die Langzeitprognose ist.

Obwohl oft ein hoher Leidensdruck besteht und die Lebensqualität aufgrund urogynäkologischer Beschwer­den massiv eingeschränkt sein kann, spricht nur jede dritte Betroffene mit ihrer Ärztin oder ihrem Arzt über ihre Beschwerden (Journal of Midwifery & Women´s Health 2010; DOI: 10.1016/j.jmwh.2006.06.004). Das ist also noch ein Tabu. Erst wenn die Beschwerden nicht mehr toleriert werden, suchen Betroffene therapeu­tische Hilfe.

Angesichts zunehmender Prävalenz aufgrund der Tatsache, dass es immer mehr ältere Frauen gibt, wird in den nächsten 30 Jahren eine deutliche Zunahme urogynäkologischer Eingriffe erwartet (AJOG 2001; DOI: 10.1067/mob.2001.114868 ). Dieser Entwicklung und den steigenden Ansprüchen der betroffenen Frauen an Mobilität und Erhalt der Lebensqualität gilt es gerecht zu werden.

Eine fundierte urogynäkologische Ausbildung in der klinischen Weiterbildung ist infolgedessen wichtig, um den Weg zu bahnen, neben der klinischen auch die ambulante urogynäkologische Therapie in der Nieder­lassung kompetent abzudecken.

DÄ: Wie reagiert man in Deutschland auf diese Herausforderung?
Winter: Wie in zahlreichen anderen Fachgebieten ist die Frauenheilkunde und Geburtshilfe auch hierzulande mit einem zunehmenden Mangel an ärztlichem Nachwuchs konfrontiert. Zudem gehört die Frauenheilkunde mit ihren zahlreichen Teilbereichen (Spezielle Geburtshilfe und Perinatalmedizin, Gynäkologische Onkologie, Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin) zu den vielseitigsten medizinischen Fachberei­chen.

In der gynäkologischen Weiterbildung nimmt die Urogynäkologie in Deutschland im Moment noch keinen sehr prominenten Platz ein. Daher gelingt es leider nicht immer, viele Studierende oder Ärztinnen und Ärzte für diese Subspezialisierung zu begeistern, nicht zuletzt, weil sie keine konkrete Vorstellung davon haben, welche Aufgaben dazu gehören.

Dies ist in anderen Ländern besser geregelt, in denen die Urogynäkologie als vierte Weiterbildungssäule etab­liert ist. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) und die Arbeitsgemeinschaft für Urogynäkologie und plastische Beckenbodenrekonstruktion (AGUB) möchten daher mit der Initiative „AGUB –Junior Academy“ gemeinsam die Weiterbildung junger Gynäkologinnen und Gynäkologen in Sachen Urogynäkologie verbessern.

DÄ: Was haben Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen Besonderes im Rahmen der Ausbildung aufgrund dieser Initiative zu erwarten?
Winter: Um das Fachspektrum der Frauenheilkunde ganzheitlich zu vermitteln, organisiert das Junge Forum in der DGGG fachspezifische Weiterbildungen in Kooperation mit den verschiedenen Arbeitsgemeinschaften der DGGG. In diesem Jahr wurde gemeinsam mit der AGUB das Curriculum „AGUB –Junior Academy“ ins Leben gerufen.

Die AGUB-Junior Academy umfasst ein innovatives Curriculum mit edukativer Webcast-Reihe zu urogynäkolo­gischen Themen, der kostenlosen Teilnahme an zertifizierten Kursangeboten und wissenschaftlichen Fach­ta­gungen, praxisorientierte Klinikhospitationen mit OP-Tag sowie einem persönlichen Mentorship durch Mit­glieder der AGUB.

Neben der fachlichen Weiterbildung soll so auch ein Fokus auf die Entwicklung der eigenen Karriere gelegt werden. Gerade das Mentoringprogramm empfinde ich persönlich als sehr bereichernd für den Wissens- und Erfahrungsaustausch, auch, um perspektivische Karrierestrategien zu diskutieren.

DÄ: Welche Rolle spielen in der Urogynäkologie die Fachbereiche Urologie, Proktologie und Rektumchirurgie?
Winter: Bei vielen urogynäkologischen Themen gibt es immer wieder Überschneidungen mit anderen Fach­be­­rei­chen. Die oftmals sehr heterogenen Krankheitsbilder sind selten nur Domäne einer Fachdisziplin. Viel häufiger kann ein interdisziplinärer und interprofessioneller Ausstausch dazu beitragen, für Betroffene die bestmöglichen diagnostischen und therapeutischen Wege zu finden.

Gemeinsam mit der Urogynäkologie versuchen die Urologie und die Koloproktologie als Teil der Allgemein- und Viszeralchirurgie hier ihren Beitrag zu leisten. Unterstützt werden diese Disziplinen vor allem noch durch die Radiologie, die in der Diagnostik wichtiges beizutragen hat, sowie die Physiotherapie. Sie stellt die Basis vieler konservativen Therapieoptionen dar.

Die Krankheitsbilder werden im besten Falle interdisziplinär behandelt. Gerade in der Urogynäkologie wird deutlich, wie nah die verschiedenen Fachbereiche – schon allein aufgrund der anatomischen räumlichen Nähe – zusammenhängen.

Durch die komplexe anatomische Situation im weiblichen Becken und den sich daraus ergebenden funktio­nellen Störungen ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit wichtig. Komplizierte Krankheitsverläufe werden fachübergreifend abgeklärt und in Beckenbodenkonferenzen mit den verschiedenen Fachabteilungen disku­tiert, um eine bestmögliche Versorgungsqualität zu gewährleisten.

Nochmals zu betonen wären hier die auf den Beckenboden spezialisierten Physiotherapeutinnen und Physio­therapeuten. Ihnen kommt bei der konservativen Behandlung ebenfalls große Bedeutung zu. Auch sind die Hebammen und die Wochenbettpflege für die Beckenbodengesundheit der Frau wichtige Berufsgruppen.

DÄ: Was hat Sie als junge Ärztin dazu bewogen, sich frühzeitig im Rahmen der Facharztweiterbildung mit Uro­gynäkologie zu beschäftigen?
Winter: An der Urogynäkologie reizt mich das vielseitige Arbeitsumfeld von der operativen Tätigkeit bis hin zur wissenschaftlichen Forschung sowie einem großen ambulanten Bereich. Spannend finde ich dabei auch die peripartalen Präventionsmöglichkeiten der Beckenbodenfunktionsstörungen.

Viele betroffene Frauen berichten über einen hohen Leidensdruck, auch, weil Beckenbodenbeschwerden noch weitgehend öffentlich tabuisiert werden. Bei extremen Auswirkungen auf die Lebensqualität spielen infolge­dessen auch psychosomatische Aspekte in der Betreuung urogynäkologischer Patientinnen eine große Rolle. Mir gefällt, dass die Urogynäkologie einen stark positiven Einfluss auf die oft langen Leidensgeschichten der Frauen nehmen kann.

mls

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