Kassenverband sieht Entlastungspotenzial von rund 37 Milliarden Euro

Berlin – Die schwierige finanzielle Lage bei der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hat der Verband der Innungskrankenkassen (IKK) deutlich adressiert. Die Gesundheitspolitik muss demnach angesichts des prognostizierten Fehlbetrags von 46 Milliarden Euro in der GKV in diesem Jahr zügig reagieren.
„Wenn die Regierung in dieser Situation nun allein auf Darlehen setzt, verdreht sie die Realität: Aus Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern werden künstlich Schuldner gemacht, obwohl sie in Wahrheit den Staatshaushalt sanieren“, erklärte der IKK-Vorstandsvorsitzende Hans Peter Wollseifer vor Journalisten in Berlin.
Der IKK e.V. vertritt die politischen Interessen von sechs Innungskrankenkassen, die 5,1 Millionen Versicherte haben. Wollseifer spielte damit besonders auf die vielen Leistungen an, die aus Geldern der Krankenkassen finanziert werden, mit der eigentlichen Gesundheitsversorgung aber nichts zu tun haben. Dazu gehören vor allem die sogenannten versicherungsfremden Leistungen, aber auch Kosten für die Ausbildung von medizinischem Personal.
Aus Sicht des IKK-Verbands muss zügig ein Ausgabenmoratorium kommen, um Beitragssteigerungen zum Jahreswechsel abzubremsen. Dabei sollten die Ausgaben aller Leistungsbereiche „strikt an die aktuellen Einnahmen gekoppelt“ werden, hieß es auf Nachfrage. Dazu gehören auch Preis- und Honorarsteigerungen, die über die laufenden Einnahmen hinausgehen.
Die Spar- und Entlastungspotenziale, die der IKK-Verband vorgestellt hat, summieren sich auf insgesamt 36,76 Milliarden Euro. Dies sei ein Entlastungspotential für den Zusatzbeitrag von 1,94 Prozent, erklärte der Kassenverband.
Konkret sind dies demnach zehn Milliarden für die vollständige Finanzierung der Gesundheitskosten von Bürgergeldempfänger. Etwa 7,44 Milliarden Euro werden für die Dynamisierung des Bundeszuschusses aus Steuergeldern gerechnet. Weitere 9,25 Milliarden Euro sollten aus der Verbreiterung der Einnahmenbasis der GKV kommen.
Dafür fordert der IKK-Verband beispielsweise eine Sonderabgabe von 50 Prozent an das Gesundheitswesen aus dem Verkauf von Tabak- und Alkoholprodukten. „Es kann nicht sein, dass der Staat an Produkten verdient, die krank machen“, so Wollseifer. Im europäischen Vergleich seien Tabak und Alkohol zu günstig, gleichzeitig liefen die Kosten für die Folgeerkrankungen immer mehr aus dem Ruder.
17 Milliarden Euro nehme der Staat ein, gleichzeitig würden die Folgekosten des Alkoholkonsums auf 57 Milliarden Euro für berechnet, bei Tabakkonsum seien es 30 Milliarden Euro. „Es ist gesellschaftlich und fiskalisch konsequent, diese Mittel zumindest anteilig der GKV zur Verfügung zu stellen, etwa über eine zweckgebundene Sonderabgabe“, erklärte Hans-Jürgen Müller, Vorstandsvorsitzende des IKK auf Seiten der Arbeitnehmer.
Weiter fordert der Verband eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Hilfsmittel und Humanarzneimittel, die der GKV weitere acht Milliarden Euro bringen könnte. Das „Durchbrechen der Preisspirale bei patentgeschützten Arzneimitteln“ brächte nach den Berechnungen rund 15 Millionen Euro, die Wiedereinführung von Ausschreibungen bei Hilfsmitteln 550 Millionen sowie die erneuten Prüfrechte bei Krankenhausrechnungen würden 1,1 Milliarden Euro in die Haushalte der Krankenkasse bringen.
Zudem solle das Zahlungsziel für Krankenhausrechnungen von fünf Tagen wieder abgeschafft werden. Letztere wurden zunächst im Zuge der Coronapandemie 2020 befristet eingeführt und schließlich im Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) verstetigt.
Zum Beleg der Forderungen hat der Verband Ergebnisse eine Umfrage vorgestellt: So wurde in einer forsa-Umfrage ein „massiver Stimmungsumschwung“ in der Bevölkerung festgestellt, so der Kassenverband: 65 Prozent der Befragten sehen die hohen Beitragssätze als eins der wachsenden Probleme im Gesundheitswesen. In der Befragung im vergangenen Jahr lag dieser Wert noch bei 46 Prozent.
Als drängendstes Problem wird die lange Wartezeit auf einen Arzttermin gesehen. 79 Prozent sehen darin das wichtigste Problem, um das sich Gesundheitspolitik kümmern sollte, 2024 lag dieser Wert bei 85 Prozent.
In der Umfrage verlangen 82 Prozent der Versicherten, dass die Gelder ausschließlich für Leistungen an die GKV-Mitglieder verwendet werden. Bei dieser Frage sehe man auch einen Anstieg von 15 Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr.
55 Prozent sehen höhere Steuern aus dem Bundeshaushalt als eine Lösung für die GKV-Finanzproblematik an. Für eine Eigenbeteiligung bei Arztbesuchen sind 13 Prozent, für eine Kürzung des Leistungsangebotes sind sechs Prozent.
Zusätzlich sinke die Zufriedenheit mit der Gesundheitspolitik: nur noch 28 Prozent der Menschen seien aktuell zufrieden oder sehr zufrieden. 2024 gaben noch 39 Prozent eine größere Zufriedenheit an. Gepaart mit anderen Umfragen zur Zufriedenheit mit dem Sozialstaat besteht die Sorge, dass das „Vertrauen von Millionen Versicherten und Arbeitgebern in unser Gesundheitssystem gefährdet wird“, so Müller.
Auch Wollseifer betonte: „Wenn die Politik die Problemlage und Erwartungen der Versicherten und Arbeitgeber, die ja auch Wähler sind, weiter ausblendet, werden die Zustimmungswerte zur vielfach beschworenen demokratischen Mitte weiter schrumpfen.“
Generell erwartet der Verband von der Reformgesetzgebung im Herbst eine „lösungsorientierte Diskussion“. So erklärte Uwe Deh, Vorstandsvorsitzender der IKK gesund plus: „Die Zeit des Abwartens und Taktierens ist vorbei. Wenn die Akteure im Gesundheitswesen, ausgehend von der Bundespolitik, jetzt nicht handeln, steht das Ergebnis bereits fest: steigende Beiträge, schlechtere Versorgung, negative Konjunkturimpulse und wachsende Unzufriedenheit.“
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