KBV-Vorständin Steiner beobachtet Politik des Sinneswandels

Berlin – Die gemeinsame Selbstverwaltung wird zunehmend in ihren Aufgaben beschnitten, immer wieder sei eine Form der Staatsmedizin zu beobachten. Allerdings halte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die Fahne im Wind, wie es ihm gerade passe. Das hat heute Sibylle Steiner, Vorständin der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), bei der KBV-Vertreterversammlung in Berlin betont.
„Kaum jemand beherrscht den Wandel – zumindest in Form von Sinneswandel – so beständig wie unser Bundesgesundheitsminister“, sagte Steiner zu den Delegierten. Als Beispiel führte sie den Entwurf für das „Gesundes-Herz-Gesetz“ an.
Es sei „wieder einmal zu beobachten“ gewesen: „Von der Staatsmedizin zurück zur Selbstverwaltung, von der Eminenz zurück zur Evidenz und von Expertenkreisen im BMG zurück zu einer breiten fachlich-wissenschaftlichen Diskussion im Gemeinsamen Bundesausschuss“, so Steiner.
Derzeit sollten der Ausbau von Früherkennungsuntersuchungen und die Verordnung von Lipidsenkern weiterhin durch die Richtlinien des G-BA geregelt werden. „Die von uns und anderen ärztlichen Organisationen vorgetragene deutliche Kritik hat offenbar Wirkung gezeigt“, erklärte sie. Aber bei Lauterbach habe man inzwischen gelernt, „vor allem auf das Kleingedruckte zu achten“.
Und so sehe der Gesetzentwurf neben der heilkundlichen Beratung durch Apotheken auch weiter ein generelles Lipid-Screening von Kindern und Jugendlichen auf familiäre Hypercholesterinämie vor – obwohl das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in einer aktuellen Bewertung dafür keinen Anhaltspunkt für einen Nutzen habe feststellen können.
„Anhand der aufbereiteten Evidenz empfiehlt das IQWiG kein generelles, sondern ein Kaskaden-Screening. Es bleibt abzuwarten, ob wir auch hier noch den notwendigen Sinneswandel des Ministers sehen werden“, so Steiner.
Sie begrüßte ausdrücklich, dass die Krankenkassen verpflichtet werden, ihren Versicherten die durch den G-BA entwickelten Disease-Management-Programme (DMP) auch tatsächlich anzubieten. „Denn Richtlinien zu DMP im G-BA immer wieder zu überarbeiten, ohne dass sie jemals in der Versorgungspraxis angekommen wären, ist weder sinnvoll noch effizient.“
Ein Ende müsse es aus ihrer Sicht auch damit haben, dass die an DMP teilnehmenden Praxen keine zuverlässige Information über den DMP-Status der Versicherten erhalten, also keine Rechtssicherheit haben, wenn sie DMP-Leistungen erbringen.
„Wir fordern daher dringend von den Krankenkassen, dass diese den indikationsbezogenen DMP-Status tagesaktuell im Versichertenstammdatenmanagement kennzeichnen“, sagte Steiner. Dies sei ein scheinbar kleines, aber wichtiges Element, um die Akzeptanz von DMP bei den Praxen zu stärken und unverschuldete Regresse zu vermeiden.
Mehr Verordnungssicherheit und die Abschaffung von unsinnigen Wirtschaftlichkeitsprüfungen fordere man seit Jahren auch bei Arznei- und Heilmittelverordnungen. Denn das Regressrisiko sei und bleibe „eines der größten Niederlassungshemmnisse“. Immerhin solle nun mit dem Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) eine Bagatellgrenze von 300 Euro im Falle von Wirtschaftlichkeitsprüfungen bei verordneten Leistungen kommen. Steiner moniert aber Signale, wonach die Bundesregierung offenbar doch noch Probleme mit den Bagatellgrenzen hat.
Ein engagierter Veränderungswillen ist für die KBV-Vorständin bei Digitalisierungsprojekten nötig. Vorgesehen sind unter anderem laut BMG und Gematik eine vollständige Digitalisierung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und des elektronischen Rezepts.
Sie mahnte dafür einen klaren Zeitplan an, wie er bei der elektronischen Patientenakte (ePA) für alle bestehe. Für Steiner ist dieser Zeitplan „überaus ambitioniert“. Das Ministerium habe der KBV aber versichert, es werde den bundesweiten Roll-Out stoppen, sollte sich die gelieferte Technik als unfertig erweisen.
Prüfstein für PVS-Hersteller
Für die KBV wichtig sei ein Termin im November, bei dem die Hersteller der Praxisverwaltungssysteme (PVS) die Gelegenheit erhielten, ihre jeweilige Lösung für die Darstellung und Bedienung der ePA zu präsentieren. „Das wird ein Prüfstein für die von uns gemeinsam formulierten Anforderungen an die PVS, um die Frage der brauchbaren Umsetzung für die Praxen zu bewerten“, so Steiner. Parallel treibe die KBV die Klärung wichtiger rechtlicher Fragen voran, um den Praxen größtmögliche Sicherheit im Umgang mit der ePA geben zu können.
Steiner betonte, auf der Gematik lasteten hohe Erwartungen. Man könne die „Ambition des BMG nur bewundern oder sich darüber wundern: Schon fünf Monate nach dem bundesweiten Roll-Out hat das BMG den Starttermin für die nächste Ausbaustufe der ePA angesetzt“.
Die KBV-Vorständin wies darauf hin, dass man auch die Frage der Finanzierung nicht außer Acht lasse. Diese müsse alle Kosten decken, die den Praxen durch gesetzlich vorgeschriebene TI-Projekte entstünden. Das gehe von den Kosten für die Technik bis hin zum Zeit- und Personalaufwand. „Perspektivisch ist unverändert evident: Wir brauchen eine komplett neue Finanzierungssystematik“, sagte sie.
Denn der aktuelle Mix aus TI-Pauschale und Einheitlichem Bewertungsmaßstab (EBM) sei überholt. Während Gesetzgeber und Krankenkassen den Praxen anfangs für jede Anwendung eine separate Vergütung zugestanden hätten, hielten sie nun an der Pauschale sowohl für aktuelle als auch zukünftige TI-Anwendungen fest.
„Wir müssen jedoch damit rechnen, dass den Praxen mit der ePA 3.0 zusätzliche, durch die bisherige TI-Finanzierung nicht gedeckte Kosten entstehen werden“, sagte Steiner voraus. Da eine Korrektur der Finanzierung durch die Ersatzvornahme des BMG frühestens zum zweiten Quartal des kommenden Jahres möglich sei, klaffe allein dadurch eine Finanzierungslücke.
Das wollen sie „nicht akzeptieren“. Ministerium und Kassen müssten sich bewegen. Für sie setzt der vorgesehene stetige Ausbau der ePA zwei Dinge voraus: Die zügige Integration aller Akteure des Gesundheitswesens in die Telematikinfrastruktur und eine störungsfreie TI, die zuverlässig läuft.
Das habe die Politik mit dem Entwurf für das Gesundheits-Digital-Agentur-Gesetz thematisiert. Demnach soll die Gematik neben der Stabilität der TI auch bessere Praxistauglichkeit und Nutzerfreundlichkeit gewährleisten. Enthalten sei auch, dass an die PVS bei TI-Anwendungen qualitative und quantitative Anforderungen gestellt werden sollten.
„An anderer Stelle erfüllt der Gesetzentwurf keineswegs unsere Forderung: Die ewigen Sanktionsdrohungen und Bußgelder gegen Praxen bleiben bestehen. Wir sagen weiterhin: Sie müssen weg“, so Steiner. Denn auch diese seien ein wichtiger Hinderungsgrund für die nachfolgende Medizinergeneration, sich für die Selbständigkeit zu entscheiden.
In Bezug auf die Diskussion um die Nationalen Versorgungsleitlinien (NVL) betonte Steiner, dass das NVL-Programm erhalten bleiben solle und gleichzeitig zukunftsfähig neu aufgestellt werde. Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) hab sich bereit erklärt, das NVL-Programm zu gestalten und weiterzuentwickeln.
Das Zi werde gewährleisten, dass die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) wie bisher in den NVL-Prozess eingebunden bleibe. „Gemeinsam mit der Bundesärztekammer werden wir von Seiten der KBV das NVL-Programm als Schirmherrinnen begleiten und finanziell unterstützen. Der Bundesgesundheitsminister ist über diese Schritte natürlich bereits informiert“, sagte sie.
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