Kindesmissbrauch ist trotz vielfältiger Präventionsmaßnahmen nicht rückläufig

Berlin – Die Prävalenz von körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbrauch von Kindern in Deutschland ist sechs Jahre nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals von 2010 gleichbleibend hoch; bei emotionaler Misshandlung ist sogar ein Anstieg zu beobachten.
„Ich war überrascht, dass gerade die Zahlen zum sexuellem Kindesmissbrauch nicht zurückgegangen sind, trotz vielfältiger Anstrengungen“, erklärte Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm heute bei einer Pressekonferenz in Berlin. Anlass ist der XXXV. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, der vom 22. bis 25. März in Ulm stattfindet. „Eine Entwarnung kann also nicht gegeben werden – wir sind aber auf dem richtigen Weg und brauchen in jedem Fall mehr Monitoring“, betonte er.
Vorgestellt wurde ein Vergleich der Daten aus dem sogenannten Childhood Trauma Questionnaire (CTQ) von 2011 mit heutigen Untersuchungsergebnissen. Im Jahr der Aufdeckung der Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg und anderen Schulen 2010 wurde von der Universität Leipzig eine repräsentative Befragung der Bevölkerung in Deutschland mit dem weltweit etablierten CTQ durchgeführt. Die Ergebnisse wurden damals im Deutschen Ärzteblatt (Dtsch Arztebl Int 2011; 108(17): 287-94) publiziert.
Am Kompetenzzentrum Kinderschutz in der Medizin, das am Universitätsklinikum Ulm angesiedelt ist, wurde nun der Vergleich mit aktuellen Daten durchgeführt. Der Fokus der statistischen Vergleiche lag auf der Gruppe, deren Angaben nach dem CTQ zwischen „mäßig bis schwer“ und „schwer bis extrem“ lag. „Wir sehen einen signifikanten Anstieg der Angaben zu emotionaler Misshandlung von 4,6 % auf 6,5 %“, erläuterte Fegert. Sowohl bei körperlicher Misshandlung als auch bei den Angaben zu sexuellem Missbrauch finden sich zwar Anstiege von 6,7 % auf 7,5 % beziehungsweise von 5,7 % auf 6,7 %, doch seien diese statistisch nicht signifikant. Eine „gute Nachricht“ gibt es nach Angaben Fegerts in Bezug auf körperliche Vernachlässigung: Diese ist von 28,8 % im Jahr 2011 auf 22,5 % signifikant zurückgegangen.
Kindheitstraumata sind assoziiert mit körperlichen Krankheiten und Schmerzempfinden
„Kindheitstraumata sind assoziiert mit somatischen Erkrankungen“, erklärte Markus Huber-Lang, Lehrstuhlinhaber am Institut für Klinische und Experimentelle Trauma-Immunologie (ITI) am Ulmer Zentrum für Traumaforschung. Je schwerer die Kindheitstraumata (erfüllte Kriterien im CTQ), desto höher sei das Risiko für Bluthochdruck, Übergewicht, Alkoholmissbrauch, Diabetes mellitus oder Krebs. Auch das Schmerzempfinden, vor allem im Kopf und an der Wirbelsäule, korreliere mit der Schwere der Kindheitstraumata, erläuterte der Unfallchirurg. Ebenso fanden sich deutliche Zusammenhänge mit der Schwere der Traumata und Suizidversuchen beziehungsweise selbstverletzendem Verhalten.
Sexuellem Missbrauch dauerhaft vorbeugen
Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, zeigte sich „sehr betroffen“ darüber, dass es „trotz vielfältiger Maßnahmen“ keinen Rückgang bei den Zahlen zur Prävalenz von Kindesmissbrauch gibt. Man brauche dauerhafte Strukturen in Schulen, Kindertagesstätten, Sportvereinen und Kirchengemeinden, um sexuellem Missbrauch vorzubeugen. „Nach fünf Jahren Aufklärungs- und Präventionsarbeit ist Deutschland immer noch nicht aus der Tabuzone raus“, beklagte er. Darüber hinaus hofft er, dass die Stelle des Missbrauchsbeauftragten „unabhängig von meiner Person“ auch in der nächsten Legislaturperiode dauerhaft besetzt wird.
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