Sexueller Kindesmissbrauch: Kritik am Aufarbeitungswillen der Kirchen

Berlin – Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs sieht bei den Kirchen nach wie vor Strukturen, die sexuellen Kindesmissbrauch und den Schutz der Täter ermöglichen. Aufklärung, Aufarbeitung, aber auch Prävention würden so verhindert. „Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche haben häufig nur so viel getan, wie sie – vor allem auf Druck von Betroffenen und Öffentlichkeit hin – tun mussten“, sagte Sabine Andresen, Vorsitzende der Kommission, heute anlässlich ihres 3. Öffentlichen Hearing in Berlin. Im Mittelpunkt der Anhörung stehen Gespräche mit Betroffenen sowie die Frage, was in Bezug auf Aufarbeitung bei den Kirchen seit 2010 passiert ist.
Im Januar 2010 wurde ein Skandal bekannt, dessen Ausmaß immer noch nicht vollständig bekannt ist: Der Schulleiter des Berliner Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes, wandte sich mit einem Öffentlichen Brief an frühere Schüler des Jesuiten-Gymnasiums. Er bat diejenigen, die an der Schule Opfer von sexuellem Missbrauch durch die Patres geworden waren, um Entschuldigung. Mertes trat damit eine Welle ungeahnten Ausmaßes los. Nach und nach wurde systematischer Missbrauch in Internaten wie Ettal, in Bistümern und zuletzt bei den Regensburger Domspatzen bekannt.
Täter nicht länger schützen
„Sexueller Missbrauch hat für die Betroffenen oft lebenslange Folgen: von gebrochenen Erwerbsbiographien bis zu andauernder Therapiebedürftigkeit“, erklärte der Sozialpsychologe Heiner Keupp, Mitglied der Aufarbeitungskommission. Doch die Machtstrukturen in den Kirchen be- oder verhinderten nach wie vor eine Aufarbeitung des Erlebten. „Die Strategien der Kirchen sind skandalös: Dinge werden unter den Teppich gekehrt, Täter einfach weiter versetzt, die glänzende Fassade wird aufrecht erhalten“, kritisierte Keupp. Die Täter dürften aber nicht länger geschützt werden. Hinweisen, zum Beispiel aus Beichten, müsse nachgegangen werden. Er forderte eine „systematische Risikoanalyse“ und eine Aufarbeitung, die die Kirchen selbst anstoßen sollten, und nicht nur die Betroffenen.
Aus Gesprächen mit Betroffenen berichtete die Erziehungswissenschaftlerin Marlene Kowalski, dass der sexuelle Missbrauch häufig durch die „hohe Loyalität der Eltern gegenüber der Kirche“ begünstigt wurde. Auf der anderen Seite gab es Eltern, die den Hilferufen ihrer Kinder „gleichgültig“ gegenüber standen. Die Taten in Gemeinden und Internaten wurden überwiegend von Männern begangen, berichtete Kowalski. In Heimen überwogen hingegen Täterinnen.
Intransparenz für Betroffene bei Aufklärung der Verfahren
„Die evangelische Kirche hat immer noch keine verlässlichen Strukturen zur Aufarbeitung eingerichtet – das ist ein Skandal“, sagte Kerstin Claus, ständiger Gast der Aufarbeitungskommission und Mitglied im Betroffenenrat des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des Sexuellen Kindesmissbrauch (UBSKM). Für die Betroffenen bestehe „absolute Intransparenz“ bei der Aufklärung der Verfahren. Bei der Evangelische Kirche Deutschland (EKD) gebe es keine zentrale Stelle, wo Fälle gemeldet werden könnten. Zahlen über Betroffene und Täter innerhalb der EKD existierten nicht. „Die Kirche spricht immer noch von Einzelfällen, aber die kollektive Dimension des sexuellen Missbrauchs muss endlich sichtbar gemacht werden“, forderte Claus.
„Die Katholische Kirche hat die Aufarbeitung etwas besser gemacht als die evangelische, aber auch sie steht noch am Anfang“, betonte Sozialpsychologe Keupp. Zuletzt hatte die Diözese Regensburg einen Rechtsanwalt beauftragt, den Missbrauch von Chorknaben bei den Regensburger Domspatzen von 1945 an aufzuklären. Der Anwalt ging von mindestens 547 Fällen körperlichen und sexuellen Missbrauchs aus.
Problem der Tabuisierung von Sexualität in der katholischen Kirche
„Die katholische Kirche weigert sich, an die systematischen Strukturen ran zu gehen, die den Machtmissbrauch begünstigen“, kritisierte Matthias Katsch, ebenfalls Mitglied im Betroffenenrat des UBSKM. Eine ernsthafte Auseinandersetzung der Kirche finde nicht statt. Die strukturelle Besonderheit bei der katholischen Kirche bestehe in „Männern an der Spitze, die im Zölibat leben“, ergänzte Keupp. Das Problem der Tabuisierung der Sexualität brauche eine theologische Reflexion, beispielsweise in den Priesterseminaren, forderte er.
Die Betroffenen Katsch und Kerstin Claus kritisierten schließlich auch die Gesellschaft, die zugelassen habe, dass die Kirchen nicht zu einer Aufarbeitung gezwungen wurden. Politik und Gesellschaft ständen darüber hinaus auch in der Pflicht, systematische Forschung anzustoßen, die vor allem für den Tatort Heime noch weitgehend fehle.
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