Krankenhausabrechnungen: Belastung der Sozialgerichte wegen Klagewellen hält an

Kassel – Die Belastung der Sozialgerichte aufgrund von Klagen zu möglicherweise fehlerhafter Krankenhausabrechnungen hält unvermindert an. Das hat der Präsident des Bundessozialgerichts (BSG), Rainer Schlegel, vorgestern in Kassel beim Jahrespressegespräch des obersten Sozialgerichts Deutschlands klargestellt.
Bundesweit sei „noch etwa ein Drittel der Fälle anhängig“, sagte Schlegel. Diese müssten voraussichtlich streitig entschieden werden. Grund sei, dass sich an die Empfehlungen der Selbstverwaltung und Politik auf Bundesebene nicht alle Krankenkassen und Krankenhäuser gehalten hätten.
Im Dezember 2018 hatten sich GKV-Spitzenverband und Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) im Rahmen eines vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) vermittelten Krisentreffens eigentlich darauf verständigt, dass die Verfahren möglichst einvernehmlich erledigt werden sollten. Das ist offenbar nur zum Teil passiert.
Bereits beim Jahrespressegespräch im vergangenen Jahr hatte Schlegel ausgeführt, dass die Krankenkassen im November 2018 innerhalb weniger Tage bundesweit mehr als 30.000 Klagen gegen Krankenhausträger anhängig gemacht hätten. Hinter diesen rund 30.000 Klagen würden sich 200.000 bis 300.000 Behandlungsfälle und Erstattungsforderungen im Umfang eines höheren dreistelligen Millionenbetrages verbergen.
Hintergrund war seinerzeit das Anfang November 2018 verabschiedete Pflegepersonal-Stärkungsgesetz. Mit diesem Gesetz hat der Gesetzgeber zulasten der Krankenkassen rückwirkend Verjährungsfristen verkürzt. „Damit wollte er eigentlich die Krankenhäuser vor Erstattungsforderungen schützen und die Sozialgerichte entlasten. Im Ergebnis hat er aber genau das Gegenteil bewirkt“, erklärte Schlegel.
Er wies darüber hinaus vorgestern darauf hin, dass einige Krankenkassen die rückwirkenden Gesetzesänderungen durch das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz für verfassungswidrig halten. Sie sähen sich durch Rechtsgutachten gestützt. „Es ist absehbar, dass diese verfassungsrechtliche Frage auch das Bundessozialgericht beschäftigen wird“, sagte er.
Weitere Klagewollen drohen
Der Präsident des Bundessozialgerichts sieht durch die zahlreichen Gesetze der Pflege- und Krankenversicherung eine Reihe von weiteren Streitfällen auf die Gerichte zurollen. Ende des vergangenen Jahres sei es bereits zu einer erneuten Klagewelle gekommen.
„Diesmal geht es um Klagen der Krankenhäuser gegen die Krankenkassen. Hintergrund dafür ist das im Dezember 2019 verabschiedete und zum 1. Januar 2020 in Kraft getretene MDK-Reformgesetz“, führte der BSG-Chef aus.
Er wies darauf hin, dass das MDK-Reformgesetz vorschreibt, dass künftig vor einer Überprüfung von Krankenhausabrechnungen durch die Sozialgerichte ein Vorverfahren durchgeführt werden muss. Dieser sogenannte Falldialog sei Auslöser der erneuten Klagewelle gewesen, erläuterte der BSG-Präsident.
Denn in einem solchen Vorverfahren müssten die streitigen Abrechnungsfälle zwischen den Beteiligten einzelfallbezogen erörtert werden. „Man könnte sagen: Die Beteiligten müssen erst miteinander reden, bevor sie gegeneinander klagen. Hierdurch sollten insbe- sondere die Sozialgerichte entlastet werden. Dieser neue obligatorische Falldialog gilt seit 1. Januar 2020´“, so Schlegel.
Die Crux: Noch vor Jahresschluss und somit vor Inkrafttreten des MDK-Reformgesetzes zum 1. Januar 2020 sei den Krankenhäusern von Anwaltskanzleien dazu geraten worden, sämtliche noch offenen Altfälle im Wege von Einzel- oder Sammelklagen gerichtlich geltend zu machen. „Damit sollte erreicht werden, dass das obligatorische Erörterungsverfahren und der damit verbundene Aufwand zumindest für diese Fälle vermieden wird“, so Schlegel.
Er betonte, diesem Rat seien „offenbar viele Krankenhäuser gefolgt“. „Das hat bei den Sozialgerichten bundesweit zu mehr als 20.000 zusätzlichen Klageverfahren geführt, in denen zum Teil wiederum eine Vielzahl von Abrechnungsfällen zusammengefasst wurden“, nannte Schlegel Zahlen.
Er monierte, dass es – noch bevor die Klageflut des vorangegangenen Jahres habe abgearbeitet werden können – durch das MDK-Reformgesetz zu einer erneuten Klagewelle gekommen sei. „Und das, obwohl auch dieses Gesetz eigentlich der Entlastung der Sozialgerichte dienen sollte.“
Appell an Klinken und Krankenkassen
Schlegel wies darauf hin, dass diese Abrechnungsstreitigkeiten zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen an vielen Sozialgerichten und auch beim BSG mittlerweile einen großen Teil aller krankenversicherungsrechtlichen Streitigkeiten ausmachen.
„Sie binden, auch weil die Beteiligten zum Teil sehr vehement streiten und kaum Einigungsbereitschaft zeigen, ganz erhebliche Ressourcen“, erklärte er. Das gehe zwangsläufig auch zulasten der übrigen Rechtsschutzsuchenden, etwa der Versicherten, die von ihren Krankenkassen dringend benötigte Leistungen einforderten.
Schlegel appellierte an die Krankenhäuser und Krankenkassen „wieder mehr aufeinander zugehen“ und Instrumentarien wie das obligatorische Erörterungsverfahren effektiv zu nutzen. Diese müssten einvernehmlich nach konstruktiven Lösungen zu suchen, anstatt sie zu umgehen und vorschnell die Gerichte zu bemühen.
430 Vorschriften neu oder verändert
Das BSG erwartet für die kommenden Jahr weitere Aufgaben. Es werde „einiges auf das Bundessozialgericht zukommen“, sagt Schlegel voroaus. Die großen Gesetzespakete der vergangenen Jahre vor allem aus dem Bereich der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung würden sehr viele Rechtsfragen aufwerfen.
Schlegel betonte, es seien insgesamt in der 19. Legislaturperiode im Bereich des Sozialgesetzbuchs V (SGB V) 14 Änderungsgesetze geschaffen worden, mit denen ungefähr 430 Vorschriften neu geschaffen beziehungsweise alte Vorschriften geändert worden seien.
Die Reformpakete würden zu zahlreichen Rechtstreitigkeiten führen, sie seien auch teils schon bei den Sozialgerichten und vereinzelt bei den Landessozialgerichten anhängig. Bis diese Prozesse beim Bundessozialgericht ankämen, werde es noch einige Zeit dauern. Klar sei aber: „Letztlich wird das Bundessozialgericht auch über diese Fragen hier in Kassel entscheiden müssen.“
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