Krankenkassen wollen alle Leistungen budgetieren, Ärzteverbände warnen vor Kahlschlag

Berlin – Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) steht finanziell mit dem Rücken an der Wand. Aus Kreisen des GKV-Spitzenverbandes wurde nun eine umfangreiche Streichliste verbreitet, die grundsätzlich Beitragssatzsteigerungen verhindern soll. Darauf stehen alle extrabudgetären Leistungen und auch die gerade erst eingeführte Entbudgetierung der Haus- und Kinderärzte. Die Ärzteschaft übte heftige Kritik an den Krankenkassen.
Der GKV-Spitzenverband fordert in dem Papier, das dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt, unter anderem dass Ausgabensteigerungen für Ärzte, Kliniken und Arzneimittel strikt an die Einnahmen gekoppelt werden. Vergütungsvereinbarungen sollen grundsätzlich so gestalten werden, dass Beitragssatzerhöhungen ausgeschlossen werden. Dieser Grundsatz wird in Paragraf 71 im Sozialgesetzbuch V zwar festgelegt, bei vielen Versorgungsbereichen wurden in der Vergangenheit – oft politisch gewollt – Ausnahmen festgelegt.
Künftig soll die Prognose des GKV-Schätzerkreises maßgeblich sein – also nicht die Grundlohnsummensteigerung, sondern die Einnahmen des Gesundheitsfonds. Nach den Vorstellungen des Kassenverbandes soll das Bundesgesundheitsministerium die Veränderungsrate jeweils bis zum 1. November festlegen. Üblicherweise legt zu diesem Zeitpunkt das Ministerium den allgemeinen Zusatzbeitrag fest, nachdem der GKV-Schätzerkreis zuvor dazu beraten hat.
Darüber hinaus soll nach den Vorstellungen der Krankenkassen die gesamte vertragsärztliche Versorgung über einen gedeckelten Vergütungsbetrag zu finanzieren sein. Deutliche Einsparungen wollen die Kassen auch bei zahnärztlichen Leistungen, Vorsorge und Rehabilitation, Heil- und Hilfsmittelversorgung, Digitalen Gesundheitsanwendungen und Hebammenhilfe erreichen.
„Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität soll sicherstellen, dass Vergütungszuwächse einnahmeorientiert vereinbart werden: Erzielen die GKV-Mitglieder in einer Periode nur geringe Einkommenszuwächse, dürfen die Vertragspartner der Selbstverwaltung bei ihren nachgelagerten Honorarverhandlungen auch nur diese geringen Zuwächse aus der Vorperiode berücksichtigen“, heiß es in der Begründung zum Kassenpapier.
Das Papier ist wie ein Formulierungsvorschlag zu einer Gesetzesänderung geschrieben. Andeutungen, man wolle auf die Grundsätze im Paragraf 71 SGB V pochen, hatte es bereits vergangene Woche bei einer Pressekonferenz des IKK-Verbandes gegeben. Auf Nachfrage äußerte man sich allerdings nur kryptisch.
Kostenanstieg auf Normalmaß zurückführen
Erst gestern hatte der neue Chef des GKV-Spitzenverbands auf politische Maßnahmen gedrängt. „Eigentlich ist die Sache doch recht einfach: Wir brauchen eine Gesetzgebung, die verhindert, dass die Krankenkassen immer wieder mehr ausgeben müssen, als sie einnehmen. Der Kostenanstieg muss wieder auf ein Normalmaß zurückgeführt werden“, hatte der Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbands Oliver Blatt der Augsburger Allgemeinen mit Blick auf die Sitzung des Koalitionsausschusses gesagt.
„Durch so ein Ausgabenmoratorium müsste keine einzige Leistung gestrichen werden, aber die Beitragsspirale wäre durchbrochen.“ Die Politik müsse rasch handeln, denn sonst würden die Zusatzbeiträge zum ersten Januar die Drei-Prozent-Schwelle überspringen, sagte er.
Blatt forderte auch, dass künftig die Preis- und Honorarzuwächse nicht mehr schneller steigen dürfen als die Einnahmen der Krankenkassen. Damit wäre weiterhin Luft für den Ausgleich der Inflation und Tarifentwicklungen, aber Ausgabensteigerungen von zehn Prozent und mehr wären vom Tisch, denn „kein Gesundheitssystem der Welt hält das auf Dauer aus“.
Deutliche Kritik von Ärzteverbänden
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), die sich derzeit in den Honorarverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband über die Honorare für das kommende Jahr befindet, ist verärgert. Sie warf Blatt heute vor, drohende Leistungskürzungen und längere Wartezeiten in Kauf zu nehmen. Darüber hinaus kündige der GKV-Verbandschef die Grundlage einer partnerschaftlichen gemeinsamen Selbstverwaltung auf.
„Das ist eine komplette Kehrtwende, hatte der GKV-Chef doch erst vor wenigen Wochen im Interview eines Verbandsmagazins erklärt, weder eine Nullrunde fahren zu wollen noch sich jeglichen Honorarsteigerungen zu verweigern“, sagten die KBV-Vorstände Andreas Gassen, Stephan Hofmeister und Sibylle Steiner.
Sie monierten, schon heute würden viele erbrachte Leistungen der Niedergelassenen nicht voll vergütet. Mit diesem Vorstoß wolle der Kassenfunktionär diesen unsäglichen Zustand auch noch auf die Bereiche ausdehnen, die bisher wohlweislich extrabudgetär, also vollständig vergütet würden.
Dazu zählen aus Sicht der KBV Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen genauso wie erst die jüngst von der Politik beschlossenen extrabudgetären Regelungen für Kinderärzte und Hausärzte.
„Ob ein Ausgabenwachstum für vertragsärztliche Leistungen auch unterhalb der Einnahmensteigerung eventuell beitragssatzrelevant ist, kann nur die Kassenseite beurteilen. Wir als KBV haben keinen Überblick über die Gesamtentwicklungen und Vereinbarungen zu den Ausgaben“, so die KBV-Vorstände.
Deutliche Kritik kam auch von Hausärzten und Facharztverbänden. Die Verbände warnen vor drastischen Folgen für die Patientenversorgung, sollte die Bundesregierung den Vorschlägen des GKV-Spitzenverbandes folgen.
„Mit diesen Vorschlägen legt der GKV-Spitzenverband die Axt an die Versorgung der Patientinnen und Patienten in den Praxen“, sagten die Bundesvorsitzenden des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes, Nicola Buhlinger-Göpfarth und Markus Beier. Konkret würde das bedeuten, dass die Praxen beispielsweise die zu Recht steigenden Gehälter ihrer Praxisteams nicht mehr finanzieren könnten.
Gleichzeitig würden sie auf den Kosten für neue Versorgungsleistungen sitzen bleiben. „Statt mutwillig den Rotstift bei Versorgung in den Praxen anzusetzen, braucht es endlich entschlossene Strukturreformen in den Bereichen, die seit vielen Jahren immer höhere Kosten verursachen – und das sind mit Sicherheit nicht die Praxen.“
„Die Entbudgetierung in der Kinder- und Jugendmedizin wurde eingeführt, um dem Ärztemangel entgegenzuwirken – und jetzt soll dieser Fortschritt wieder zunichte gemacht werden?“, monierte Michael Hubmann, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärztinnen -und ärzte (BVKJ).
Mindestens genauso absurd sei, dass selbst Kostensteigerungen für gesetzlich vorgeschriebene Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen nach Vorstellung des GKV-Spitzenverbands nicht mehr finanziert werden sollten. „Wie wir in unserem Pakt für Kindergesundheit klar machen, braucht es mehr Prävention, stattdessen bedeutet der Kahlschlag der Kassen: weniger U-Untersuchungen, weniger Beratung der Eltern, Krankheiten würden zu spät erkannt – mit Folgen fürs ganze Leben. Und wenn Impfungen zurückgehen, drohen vermeidbare gesundheitliche Schäden bei Kindern.“
„Die Forderungen des GKV-Spitzenverbandes sind absurd und planlos“, so der Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbandes Fachärztinnen und Fachärzte Deutschlands, Dirk Heinrich. Wer die niedergelassenen Fachärztinnen und Fachärzte jetzt noch weiter einschnüre, schädige die Patienten und werde eine Kostenexplosion bei den Krankenhäusern ernten. „Wir brauchen den umgekehrten Weg und damit endlich auch die Entbudgetierung der fachärztlichen Versorgung.“
Norbert Smetak, Vorsitzender von Medi Geno Deutschland, sprach von einem „Generalangriff auf die ambulante Versorgung und die niedergelassene Ärzteschaft“. Die künftigen Kosten sollten aus Sicht der Kassen nahezu vollständig auf die Ärzteschaft abgewälzt werden, und selbst die erreichte Entbudgetierung drohe wieder einkassiert zu werden.
„Anstatt immer wieder mit denselben Plattitüden zu argumentieren, sollten die Kassen versuchen, gemeinsam mit uns innovative Versorgungsformen weiterzuentwickeln. Stattdessen erklingt erneut nur die Begleitmusik zu den aktuellen Honorarverhandlungen“, so Smetak.
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