Politik

Krankenkassen wollen Bund auf zehn Milliarden Euro verklagen

  • Donnerstag, 11. September 2025
Uwe Klemens und Susanne Wagenmann /GKV-Spitzenverband, Tom Maelsa
Uwe Klemens und Susanne Wagenmann /GKV-Spitzenverband, Tom Maelsa

Berlin – Der GKV-Spitzenverband will den Bund wegen der staatlichen Unterfinanzierung von Krankenkassenbeiträgen für Bürgergeldempfänger verklagen. Das entschied der Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbands in der heutigen Sitzung in Berlin.

Demnach will der Kassenverband zunächst vor dem Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen gegen die Zuweisungsbescheide des Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS) vorgehen. Es sei die Hoffnung, dass das LSG die Klage dann an das Bundesverfassungsgericht weiterreiche, erklärte Susanne Wagemann, Verwaltungsratsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands, heute in Berlin.

Die Krankenkassenvertreter monieren seit Jahren, dass der Bund jedes Jahr etwa zehn Milliarden Euro zu wenig an die GKV für die gesundheitliche Versorgung der Bürgergeldbeziehenden zahlt.

Dies hatten bereits mehrere Gutachten belegt: Das IGES-Institut hatte diese Summe im Mai 2024 im Auftrag des Verbandes errechnet sowie 2016 im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums. In den Jahren 2018 (große Koalition) und 2021 (Ampelkoalition) war der Ausgleich für die „kostendeckenden Beiträge“ als Projekt in den jeweiligen Koalitionsverträgen vorhanden. 2025 im schwarz-roten Vertrag allerdings nicht.

Auch Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) hatte sich in den vergangenen Monaten prinzipiell dafür ausgesprochen, dass Behandlungskosten für Bürgergeldbezieher vollständig und nicht nur teilweise über den Bundeshaushalt abgedeckt sein sollten. In den Etatplänen für 2025 und 2026 ist dies jedoch nicht vorgesehen.

„Wir können nicht länger zuschauen. Wir wollen Fairplay“, erklärte Wagemann. Auch Uwe Klemens, alternierender Vorsitzender des Verwaltungsrates, sagte: „Was wir seit Jahren sehen, ist ein schamloser Griff des Staates in die Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung.“

In einem Argumentationspapier des Kassenverbandes wird aufgezeigt, dass der Bund im Jahr 2022 für Bürgergeldempfänger eine Beitragspauschale von monatlich 108,48 Euro gezahlt habe. Um die Ausgaben der Krankenkassen zu decken, hätte der Bund aber 311,45 Euro im Monat zahlen müssen, argumentiert demnach der GKV-Spitzenverband. Bürgergeldempfänger sind in der Regel gesetzlich versichert.

Im geschlossenen Teil der heutigen Verwaltungsratssitzung votierten die anwesenden Vertreterinnen und Vertreter nach Angaben von Wagemann und Klemens einstimmig für die Klage. Im Herbst diesen Jahres soll gegen die Zuweisungsbescheide 2026 des BAS geklagt werden. Da das BAS in Bonn ansässig ist, ist in erster Instanz das LSG Nordrhein-Westfalen zuständig. Da die Krankenkassen nicht über ein Verbandsklagerecht verfügen, können sie nicht direkt Klage beim Bundesverfassungsgericht einreichen.

Allerdings hoffe man, das eine zügige Überweisung in die nächsthöhere Instanz erfolge, hieß es. Gerechnet werde damit, dass es mindestens drei bis vier Jahre bis zu einer Entscheidung dauern könnte. Als Beispiel für ihre Erfolgsaussichten führt der Krankenkassenverband die Klage vor dem Bundessozialgericht im Streit um die Finanzierung der damaligen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) im Mai 2021 an. Damals hatte das oberste Sozialgericht festgestellt, dass Krankenkassen die Behörde nicht mitfinanzieren müssen.

Der GKV-Spitzenverband argumentiert nun, dass die Kassen wegen der unzureichenden Finanzierung eine Aufgabe in alleiniger Verantwortung des Bundes erfüllen – das sei ein rechtswidriger Eingriff in das Recht der Sozialversicherungsträger zu organisatorischer und finanzieller Selbstständigkeit. Außerdem sei es ein Verstoß gegen die strenge Zweckbindung von Sozialversicherungsbeiträgen.

GKV-Verwaltungsratsvorsitzende Wagemann sieht auch eine „Strahlkraft“ der Klage für weitere Sozialversicherungsträger wie die Rentenversicherung oder auch die Bundesagentur für Arbeit. Auch dort würden Leistungen aus Versicherungsbeiträgen bezahlt, die nicht mit der originären Aufgabe zu tun haben.

Klemens führte auch weitere Beispiele aus dem Gesundheitswesen an: So sieht er die Finanzierung der Gematik, die für die Digitalisierung des Gesundheitswesens zuständig ist, durch die Krankenkassen ebenfalls als kritisch an. „Vielleicht ist das der nächste Schritt für eine weitere Klage.“

Nach Angaben des GKV-Spitzenverbands haben sich inzwischen 74 der 94 Krankenkassen dem Vorhaben angeschlossen. Bei diesen sind 71 Millionen Menschen versichert. Man gehe davon aus, dass auch weitere Kassen folgen werden.

In ersten Reaktionen erklärte beispielsweise die größte Krankenkasse, die Techniker Krankenkasse (TK), ihre Unterstützung: „Es ist eine Gerechtigkeitsfrage. Die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler der gesetzlichen Krankenkassen werden durch die derzeitige Regelung finanziell benachteiligt. Das muss sich endlich ändern“, erklärte Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK. Und weiter: „Wenn eine staatliche Aufgabe aus Beitragsgeldern bezahlt wird, werden Personen mit niedrigem Einkommen überproportional stark belastet und Privatversicherte gar nicht beteiligt.“

Die Vorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen (vdek), Ulrike Elsner, bekräftigt ebenso ihre Unterstützung: „Wenn sich die Politik nicht an Regeln hält und seit Jahren Gelder verweigert, die der Versichertengemeinschaft zustehen, gibt es zur Klage keine Alternative.“ Mitglied im vdek sind neben der TK, die Barmer, die DAK sowie die KKH, die hkk und die HEK.

Auch der BKK-Dachverband, der 64 Betriebskrankenkassen vertritt, unterstützt die Klage: „Der Bund sitzt dieses Problem konsequent aus. Der Klageweg gegen die Unterfinanzierung ist daher nur folgerichtig, um diesem notorischen Zugriff des Staates auf Versicherungsgelder ein Ende zu bereiten“, sagt Anne-Kathrin Klemm, Vorständin des BKK Dachverbandes.

Aus der Politik kommt von Grünen und Linken Unterstützung für die Klage: So erklärte Linda Heitmann (Grüne), dass dies ein „längst überfälliges Signal" sei. „Wir Grüne stehen hinter der Forderung nach einer fairen und solidarischen Finanzierung und unterstützen die Klage ausdrücklich."

Vor drohenden Sparmaßnahmen in der gesetzlichen Krankenversicherung warnte auch der Linken-Gesundheitsexperte Ates Gürpinar. „Darum ist es gut und richtig, dass die Krankenkassen nun realistische Beiträge für die Versorgung von Bürgergeldbeziehenden einfordern", erklärte er in Berlin. Gürpinar pochte zudem auf eine solidarische Kranken- und Pflegeversicherung, „in die alle einzahlen".

bee/afp/dpa/hahü

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