Ärzteschaft

Krisenzeiten brauchen Solidarität und Zusammenhalt statt Spaltung

  • Freitag, 11. November 2022
/studioworkstock, stock.adobe.com
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Berlin – Gerade in Krisenzeiten ist Zusammenhalt und Solidarität wichtig. Während der Coronapandemie fand eine große Solidarisierung mit systemrelevanten Berufen statt. Im Verlauf der Pandemie erfuhren die politi­schen Entscheidungen zu einschränkenden Maßnahmen jedoch mehr Kritik und Gegenwehr in der Bevölke­rung.

„Wir konnten und können eine zunehmende Spaltung beobachten“, sagte Gerhard Hentschel, Vorsitzender der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV) bei der digitalen Veranstaltung „Solidarität und Spaltung in Krisenzeiten“ vorgestern.

Eine weitere Krise, der Krieg in der Ukraine, hat bei den Menschen in ganz Europa ein hohes Maß an Einigkeit und Solidarität ausgelöst. Kriegssituationen in anderen Ländern haben das in diesem Ausmaß nicht hervorge­rufen. Die Frage stellt sich, warum Gesellschaften und Individuen so unterschiedlich auf Krisen reagieren.

„Mit der Veranstaltung wollen wir betrachten, wodurch Solidarität oder solidarisches Handeln entsteht und wo die Grenzen dieses Konzeptes liegen“, erklärte Hentschel. Auch der Frage, wie man Solidarität fördern kann und was das für die Gesellschaft, politische Entscheidungen sowie demokratische Prozesse bedeutet, gingen die Referenten aus persönlichkeitspsychologischer und gesellschaftspolitischer Sicht nach.

„Die Coronapandemie war eine große gesundheitliche, psychische, ökonomische und soziale Herausforderung - Solidarität war für die Bewältigung dieser Krise zentral“, betonte Jule Specht, Institut für Psychologie der Humboldt Universität Berlin, aus persönlichkeitspsychologischer Sicht. Sie stellte die noch unveröffentlichten Ergebnisse einer Bevölkerungsbefragung von Oktober 2020 vor.

45 Prozent der Befragten erhielten danach soziale Unterstützung von Personen außerhalb des eigenen Haus­halts; 37 Prozent wurde von Freunden und Familie geholfen, 19 Prozent von Nachbarn und neun Prozent von zivilgesellschaftlichen Akteuren; zehn Prozent der Befragten erhielten keine ausreichende Unterstützung.

„Die zivilgesellschaftliche Hilfe war dabei komplementär statt kompensatorisch und reichte nicht aus“, fasste Specht die Ergebnisse zusammen. Besonders Bedürftige hätten mehr Unterstützung von der Zivilgesellschaft gebraucht. Diese erreichte aber eher diejenigen, die ohnehin schon Hilfe hatten. Desweitere erhielten Men­schen, die offen und extrovertiert waren mehr Unterstützung von allen Seiten. Emotional stabile Menschen erhielten hingegen weniger.

„Empathie sollte die zentrale Fähigkeit für gesellschaftliches Miteinander sein“, betonte die Psychologiepro­fessorin. Grundsätzlich hätten empathische Menschen eher pro-migrantische Einstellungen; hätten eher Ver­ständnis für andere politische Einstellungen als ihrer eigenen; fühlten sich anderen Menschen näher.

„Sich offen unsolidarisch für gesellschaftliche Probleme zu zeigen, wird negativ bewertet und sanktioniert“, sagte Stephan Lessenich, Institut für Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt, aus gesellschafts­politischer Perspektive.

Im Ukrainekrieg habe er eine „starke politische Anrufung“ aus Solidarität mit dem angegriffenen Land wahrgenommen. Die Gesellschaft war pro Waffenlieferungen an die Ukraine und für das Kümmern um geflüchtete Ukrainer.

Während der Coronapandemie habe der Begriff Solidarität „Hochkonjunktur“ gehabt, betonte Lessenich. Menschen beklatschen Pflegekräfte, hielten aus Solidarität Abstandsregeln ein , trugen Masken und verzichteten auf Verwandtenbesuch. Auch das Festlegen von Impfprioritäten oder das Spenden von überzähligen Impfdosen sei ein solidarischer Akt gewesen.

Die Solidarität in der Pandemie habe auch Grenzen gehabt, erklärte Lessenich. So habe es beispielsweise keine Solidarität mit Paketboten gegeben, die ja aufgrund von Lockdownbeschränkungen den Konsum sicherten. Auch sei ein ausgeprägter Impfstoffnationalismus feststellbar gewesen.

Grundsätzlich sei Solidarität „eine kollektive soziale Praxis, die gesellschaftliche Probleme identifiziert und kooperative Formen etabliert, die auf eine Veränderung der Problemverur­sachungsstrukturen zielen“. Im Gegensatz dazu seien zum Beispiel Spenden ein Akt der Hilfe und Unterstützung.

„In der Pandemie wurde der Solidaritätsbegriff aber durch Überdehnung entleert. Mit der begrifflichen Trennschärfe verlor er auch an analytischem Wert“, sagte der Psychologe.

Meist zeigten eher gut abgesicherte Menschen, die Zeit und Geld haben, Solidarität. „Man muss sich das leisten können“, sagte Lessenich bei der DPtV-Veranstaltung. Viele seien mit ihren Alltagsproblemen beschäftigt und hätten keine Kapazitäten. Von daher sei die Förderung von Solidarität auch ein Thema von Ressourcenverteilung.

PB

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