Politik

Länder wollen Erhöhung der Mindestmengen für Frühgeborene stoppen

  • Donnerstag, 13. Juli 2023
/Iryna, stock.adobe.com
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Kiel – Ab dem kommenden Jahr sollen verschärfte Mindestmengen für die Frühgeborenenversorgung der Perinatalzentren Level 1 gelten. Die bisherige Übergangsregel läuft zum Jahresende aus. Die Bundesländer versuchen nun, die schärferen Vor­gaben, die der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) 2020 verab­schiedet hat, noch aufzuhalten.

Den künftigen Vorgaben zufolge müssen Kinderkliniken in ganz Deutschland ab 2024 pro Jahr mindestens 25 Frühgeborene unter 1.250 Gramm Geburtsgewicht behandeln, um auch weiter die Versorgung von den Kran­kenkassen bezahlt zu bekommen. Bislang lag die Mindestmenge bei 14 Früh­gebo­renen pro Jahr, in diesem Jahr gilt noch eine Übergangsregelung von 20.

Die Länder haben nun aber einen Antrag in den G-BA eingebracht. Das Ziel: Die Wiederaufnahme der Bera­tungen im Unterausschuss Qualitätssicherung und der AG Mindestmengen zu den Mindestmengenregelungen der Perinatalzentren Level 1 ab 2024. In der kommenden Woche will der G-BA darüber im Plenum beraten, wie der aktuellen Tagesordnung zu entnehmen ist.

Schleswig-Holsteins Gesundheitsministerin Kerstin von der Decken (CDU) kündigte heute bei einer Sitzung im Sozialausschuss des Landtages zum Thema Geburtshilfe Widerstand gegen die Ein­führung an. Dabei wurden die Ergebnisse einer Versorgungsbedarfsanalyse für Geburtshilfe und Neonatologie in Schles­wig-Holstein vor­­­gestellt.

„Die Kernaussage der Analyse ist, dass die stationäre Versorgung bei der Geburtshilfe mit dem Angebot in Schleswig-Holstein sichergestellt ist“, sagte sie. Aber alle Beteiligten müssten daran arbeiten, dass dies so bleibe. „Wir werden uns als Land weiter dafür ein­setzen, dass Vorgaben und Regelungen auf Bundesebene die Versorgung nicht gefährden“, so von der Decken.

Sie erläuterte, Schleswig-Holstein werde sich weiter dafür einsetzen, dass die geplante Umsetzung von neuen Mindestmengenregelungen auf Bundesebene nicht zu einer Verschlechterung des Versorgungsangebots im Land führen werde. Von der Decken betonte dazu heute, die künftigen Mindestmengenvorgaben der Früh­chen­­versorgung unter 1.250 Gramm würden in Schleswig-Holstein „voraus­sichtlich nur zwei der fünf Level 1-Kliniken erreichen“.

Die tatsächliche Berechnungsgrundlage läge zwar noch nicht vor, so dass sich derzeit noch keine belast­ba­ren Aussagen treffen ließen. Sie setze sich vor dem Hintergrund der drohenden Rückstufung aber gemeinsam mit anderen Ländern – und auch Fachgesellschaften – mit Nachdruck dafür ein, dass der Bund die Erhöhung der Mindestmengen in dieser Form nicht vornehme.

Schon Mitte Juni kamen Bedenken aus Baden-Württemberg. Eine rein rechnerische Betrachtung, wie sie der G-BA vornehme, halte man für nicht realistisch, sagte ein Sprecher des Sozialministeriums. „Vor allem ist nicht berücksichtigt, ob die „verbliebenen“ Perinatalzentren weitere Kapazitäten haben.“

Die neuen Mindestmengen stellten das Land „vor Herausforderungen“, sagte der Sprecher. Man wolle sich des­wegen dafür einsetzen, beim G-BA die Aussetzung von Sanktionen zu erwirken. Langfristig setze man auf die Krankenhausreform, die Bund und Länder derzeit aushandeln. Diese könnte auch bei der Frühchenversorgung „sinnvolle Lösungen anbieten“, etwa durch eine Vergütung für das Vorhalten bestimmter Strukturen.

Besorgt gezeigt hatten sich im Juni auch die Chefärzte der Kinderkliniken in Baden-Württemberg. Sie befürch­teten, dass ab kommendem Jahr viele Stationen zur Versorgung von sehr kleinen Frühgeborenen schließen müssten.

Die Versorgung sei akut gefährdet, sagte Christian von Schnakenburg, Vorsitzender des Verbands leitender Kinder- und Jugendärzte Baden-Württemberg. „Die Versorgung von Frühgeborenen wird qualitativ deutlich schlechter werden. Ich bin hochgradig besorgt“, sagte er.

Einer Analyse des Chefarztverbandes zufolge hätten die neuen Mindestmengen massive Auswirkungen auf die Versorgungslage in Baden-Württemberg. Bislang gibt es im Südwesten 21 Kinderkliniken, die der höchs­ten Versorgungsstufe Level 1 zugeordnet sind.

In diesen Krankenhäusern, auch Perinatalzentren genannt, können auch besonders früh geborene Kinder ver­sorgt werden. „Bleibt es bei der neuen Mindestmenge, würde das bedeuten, dass elf der 21 Kliniken Kinder unter 1.250 Gramm nicht mehr versorgen dürften“, sagte von Schnakenburg, der auch Chefarzt am Klinikum Esslingen ist.

In den vergangenen beiden Jahren versorgten diese elf Kliniken knapp ein Drittel aller Frühgeborenen unter 1.250 Gramm. Das geht aus einer Erhebung des Verbandes hervor. Wo und von wem diese Kinder künftig versorgt werden sollen, sei völlig offen, warnte von Schnakenburg. „Diese Kinder können nicht einfach auf die zehn verbleibenden Kliniken verteilt werden. Dort gibt es gar nicht ausreichend Kapazitäten, hinzu kommt der große Pflegemangel“, sagte von Schnakenburg.

Auch auf die Notfallversorgung habe die Neuregelung Auswirkungen, erklärte Chefarzt von Schnakenburg. Die Notfallversorgung für Schwangere und Frühgeborene bleibe zwar weiter gesichert, Mütter könnten ihre Kin­der also auch weiter in einer der elf bedrohten Kliniken auf die Welt bringen.

„Direkt nach der Geburt müssten wir das Kind aber so schnell wie möglich in eine andere Klinik verlegen“, sagte von Schnakenburg. Das sei mit großen Risiken für die kleinen Frühgeborenen verbunden. „Eigentlich sollte man die Kinder in den ersten drei Tagen nicht herumfahren, weil das Risiko für Hirnblutungen in dieser Zeit sehr hoch ist.“

Unklar sei zudem, was der Wegfall vieler Frühgeborenenstationen für die Notfallversorgung in anderen Kliniken bedeute. Bislang müssen nur Perinatalzentren einen sogenannten Babynotarzt vorhalten. Mit diesem fahren Kinderärzte aus den Zentren bei Notfällen in Geburtskliniken ohne Kinderklinik, um dort Kinder nach der Geburt zu versorgen.

„Es gibt viele Kinder, die wegen einer Nabelschnurumschlingung oder einer Anpassungsstörung maximal intensivmedizinisch versorgt werden müssen“, sagte von Schnakenburg. Diese Kinder müssten bei einem Wegfall vieler Frühgeborenen-Stationen deutlich länger auf Hilfe warten, warnte der Chefarzt. „Das sind Kollateralschäden, die überhaupt nicht bedacht werden.“

may/dpa

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