Merkel ruft wegen hoher Infektionszahlen zum Zuhausebleiben auf

Berlin – In einem eindringlichen Appell hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Bundesbürger in ihrem wöchentlichen Videopodcast zur Einschränkung ihrer Kontakte und zum Verzicht auf Reisen aufgerufen. Die Äußerungen stießen auf Zustimmung, aber auch auf Kritik.
„Treffen Sie sich mit deutlich weniger Menschen, ob außerhalb oder zu Hause“, hatte Merkel angesichts der hohen Infektionszahlen mit SARS-COV-2 erklärt. „Verzichten Sie auf jede Reise, die nicht wirklich zwingend notwendig ist, auf jede Feier, die nicht wirklich zwingend notwendig ist.“
Um Ansteckungsketten zu unterbrechen, müssten die Kontaktpersonen jedes infizierten Menschen benachrichtigt werden. „Die Gesundheitsämter leisten dabei Großartiges, aber wo die Zahl der Infizierten zu hoch wird, da kommen sie nicht mehr hinterher“, so Merkel.
Wenn immer möglich sollten die Menschen zu Hause bleiben, appellierte sie. „Ich weiß, das klingt nicht nur hart, das ist im Einzelfall auch ein schwerer Verzicht.“ Aber er müsse nur zeitweilig geleistet werden. Die Pandemie breite sich schneller als zu Beginn aus.
„Der vergleichsweise entspannte Sommer ist vorbei, jetzt stehen uns schwierige Monate bevor“, sagte Merkel. „Wir müssen jetzt alles tun, damit das Virus sich nicht unkontrolliert ausbreitet.“ Dabei zähle jeder Tag.
Am Wochenende meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) insgesamt mehr als 13.000 Neuinfektionen mit SARS-CoV-2. Vorgestern hatte es mit 7.830 Neuinfektionen einen neuen Rekordwert gegeben. Gestern gab das RKI 5.580 neue Infektionen bekannt.
Da am Wochenende nicht alle Gesundheitsämter melden, liegen die Zahlen sonntags immer niedriger als unter der Woche – die 5.580 Infektionen sind trotz des Rückgangs gegenüber vorgestern aber rund 2.100 mehr als Sonntag vor einer Woche und rund 3.200 mehr als Sonntag vor zwei Wochen.
Bevölkerung nicht verunsichern
Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Klaus Reinhardt, warnte heute davor, die Bevölkerung zu verunsichern. Er wolle keine Entwarnung oder übertriebene Gelassenheit verbreiten. „Aber ich finde, man kann den Menschen nicht in einer Tour Angst machen“, sagte er im Deutschlandfunk.
So könne eine Art von Abstumpfung entstehen. Teile der Bevölkerung könnten anfangen, die Warnungen nicht mehr ernst zu nehmen. „Also ganz so ernst kann ich die Lage aktuell nicht nachvollziehen, wenn ich ehrlich bin“, sagte Reinhardt. „Ich glaube, dass diese Vorstellung, dass man dieses Virus ganz vertreiben kann, eine irrige ist.“ Man müsse lernen, mit einer Zunahme der Infektionszahlen umzugehen und zu leben.
FDP-Chef Christian Lindner rief dazu auf, nicht nur auf Infektionszahlen zu schauen. „Es wird nur geschaut auf die Zahl der Neuinfektionen“, sagte er gestern Abend im ARD-„Bericht aus Berlin“.
Es gebe Experten, die auch andere Parameter in Betracht zögen, wie die Situation in den Arztpraxen oder bei der stationären Versorgung im Krankenhaus. Zudem seien zurzeit eher jüngere Menschen infiziert. „Es wäre Alarmstufe Rot wenn jetzt Menschen in Alten- und Pflegeheimen zuerst betroffen wären.“ Das sei aktuell glücklicherweise nicht der Fall.
„Insofern rate ich zur Vorsicht, wir sollten aber auch nicht überdramatisieren. Ich kann nur sagen: Eine Ausgangssperre wäre völlig unverhältnismäßig“, sagte Lindner und ergänzte: „Im Übrigen halte ich es auch für unverhältnismäßig, wenn bei einer kleinen privaten Feier von zehn Leuten plötzlich die Polizei klingelt, weil Nachbarn sich plötzlich denunziatorisch betätigen.“
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach zählt im Kampf gegen das Coronavirus auf das Verhalten der Menschen – weniger auf die Eindämmungsmaßnahmen. „Es wird darauf ankommen, wie sich die Bevölkerung verhält. Das ist wichtiger als einzelne Maßnahmen. Viele Auflagen lassen sich ohnehin schwer überprüfen“, sagte der Mediziner den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Bei einer weiterhin so schnellen Ausbreitung des Coronavirus rechnet Lauterbach mit lokalen Shutdowns in Deutschland. „Es ist ganz simpel. Der R-Wert liegt bei etwa 1,3. Wenn wir den nicht runterbekommen, steigen die täglichen Fallzahlen innerhalb kürzester Zeit so stark an, dass die Kliniken und Gesundheitsämter überlaufen werden. Dann kommen lokale Shutdowns.“
Lokaler Lockdown in Berchtesgaden
In Bayern scheint das bereits so weit zu sein. Im Kampf gegen die extrem gestiegenen Infektionszahlen im oberbayerischen Landkreis Berchtesgadener Land will Ministerpräsident Markus Söder (CSU) praktisch einen „Lockdown“ verhängen.
Es werde ein Maßnahmenpaket geben, „das einem Lockdown entspricht“, sagte Söder heute. Das Robert Koch-Institut (RKI) meldete heute für den Landkreis Berchtesgadener Land eine Sieben-Tage-Inzidenz von 252,1.
Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) solle gemeinsam mit dem Landkreis und der Regierung von Oberbayern die Details ausarbeiten. Das öffentliche Leben müsse im Berchtesgadener Land heruntergefahren werden. „Anders geht es nicht“, sagte Söder. Die Kontakte der Infizierten könnten dort nicht mehr verfolgt werden.
„Also müssen Kontakte fundamental beschränkt werden“, sagte er. Es werde sehr konsequent und sehr deutlich reagiert werden. „Es wird das härteste Protokoll sein, das wir jetzt an der Stelle haben werden.“
Am Abend hieß es, dass ab morgen 14 Uhr strikte Ausgangsbeschränkungen gelten sollen. Das Verlassen der eigenen Wohnung soll nur noch bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt sein, wie Agrarministerin Michaela Kaniber (CSU) nach einer Krisensitzung mit Landratsamt und Regierung von Oberbayern in Bad Reichenhall erklärte. Es sind bayernweit die ersten Ausgangsbeschränkungen seit mehreren Monaten.
Der Landkreis Berchtesgadener Land ist mit einer Bevölkerungsdichte von 126 pro Quadratkilometer vergleichsweise dünn besiedelt. Wie es zu der Infektionswelle kommen konnte, ist nicht genau geklärt.
„Ausgangspunkt war auch wieder eine entsprechende Party“, sagte Söder. Möglicherweise kommen weitere Infektionsherde infrage. Auch die Nähe zu Österreich dränge zu einschneidenden Maßnahmen, sagte Söder. Wenn jetzt nicht konsequent gehandelt werde, sei die hohe Zahl nicht mehr zu reduzieren.
Söder hatte bereits gestern der Bild am Sonntag gesagt, die Lage sei „ernst“. „Wenn wir nicht rasch gegensteuern, gerät Corona außer Kontrolle.“ Wer zögere, riskiere einen zweiten Lockdown.
Seibert verteidigt Appell der Kanzlerin
Regierungssprecher Steffen Seibert verteidigte heute den jüngsten eindringlichen Appell von Kanzlerin Merkel . Es sei für die Kanzlerin eine zusätzliche Möglichkeit gewesen, ihre Gedanken zu dem, was in dieser konkreten Phase der Pandemie notwendig sei, darzulegen, sagte er in Berlin.
„Wenn Deutschland durch die ersten Monate der Pandemie vergleichsweise gut durchgekommen ist, dann hatte das zwei Gründe: Politisches Handeln von Bund, Ländern und Kommunen ist der eine, und die Leistung der Bürger ist der andere Grund.“ Die Tatsache, dass eine übergroße Mehrheit Regeln befolge, Einschränkungen auf sich nehme, Zurückhaltung bei Kontakten auferlege, „das hat uns vor vielem bewahrt“.
In einem demokratischen Land trügen die Bürger Verantwortung. Ihre Einsicht und Vernunft entscheide mit darüber, wie das Land die Pandemie in den Griff bekomme. In einer Demokratie sei es normal und richtig, dass sich die Bundeskanzlerin auch mal in dieser Form direkt an die Bürger wende. Das ersetze nicht politisches Handeln. Das finde statt – die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder hätten dies bei ihrer Konferenz Mitte vergangener Woche bewiesen.
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