Nationale COVID-19-Leitlinien unterscheiden sich von WHO-Empfehlungen

Oxford – Die klinischen Leitlinien für die Behandlung von COVID-19 unterscheiden sich international teils deutlich. Das offenbart eine in BMJ Global Health (2024; DOI: 10.1136/bmjgh-2023-014188) publizierte vergleichende Analyse. Nahezu jede nationale Leitlinie empfiehlt demnach mindestens eine Therapie, für die bereits bewiesen wurde, dass sie unwirksam ist.
Erstautorin Mia Cokljat vom Infectious Diseases Data Observatory (IDDO) der University of Oxford und ihre Kollegen betonen, dass COVID-19 aktuell zwar nicht mehr die Bedrohung für Leib und Leben darstelle, wie es zu Hochzeiten der Pandemie der Fall gewesen sei, aber das Virus entwickle sich weiter und sei noch immer weltweit aktiv.
Auf Nachfrage des Deutschen Ärzteblattes betont der federführende Autor der deutschen S3-Leitlinie zur COVID-19-Therapie, Stefan Kluge, dass es sich bei dieser um eine Living-Guideline handele, die im Verlauf der Pandemie kontinuierlich aktualisiert worden sei. Allerdings: „Die Leitlinie wurde nicht täglich, sondern in unterschiedlichen Zeitabständen aktualisiert, was zu den festgestellten Abweichungen führen kann“, sagte er.
Aktuell keine relevanten Unterschiede zwischen S3-Leitlinie und WHO
„Aktuell unterscheiden sich die relevanten Empfehlungen der WHO nicht von denen der deutschen S3-Leitlinie“, betonte die Berliner Infektiologin Miriam Stegemann, die sowohl an der Erstellung der deutschen als auch den WHO-Empfehlungen mitgearbeitet hat.
Die deutsche Leitlinie wurde im Januar 2024 zuletzt aktualisiert, die aktuellsten Empfehlungen der WHO stammen von November 2023. Cokljat und ihr Team untersuchten, inwiefern verschiedene nationale Leitlinien (Stand Ende 2022) mit den WHO-Empfehlungen aus dem Juli 2022 (11. Version) übereinstimmten. „Die Empfehlungen der WHO gelten als Goldstandard in der Behandlung von COVID-19“, schreiben sie.
Für die Übereinstimmung mit den WHO-Empfehlungen vergaben die Forschenden Punkte, die letztlich zu einem Score zusammengezählt wurden. Extrapunkte gab es zum Beispiel, wenn die Leitlinie innerhalb der letzten 6 Monate aktualisiert worden war, wenn sich die Empfehlungen an der Evidenzstärke orientierten und wenn die Leitlinien die Effektivität und die Nebenwirkungen von Therapieoptionen einschätzten.
Analyse von 109 nationalen Leitlinien
Cokljat und ihre Kollegen berichten, dass von 194 kontaktierten WHO-Mitgliedstaaten 72 nicht geantwortet hätten. Von den restlichen 122 haben 13 keine offizielle Leitlinie oder empfehlen keine Behandlung. Sie wurden ausgeschlossen.
Letztlich analysiert wurden die COVID-19-Leitlinien von 109 Ländern. Die Länder, für die keine Leitlinien akquiriert werden konnten, hatten im Schnitt eine kleinere Bevölkerung, ein niedrigeres Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt und einen niedrigeren Global-Health-Security-Index.
Wie sie später feststellten, sind es auch die ressourcenschwachen Länder, die – wenn sie eine eigene Leitlinie haben – am stärksten von den Empfehlungen der WHO abweichen. Was nicht heißt, dass sich Abweichungen nur auf diese Länder beschränken:
84 % der nationalen Leitlinien definieren den Schweregrad von COVID-19 nicht auf die gleiche Weise wie die WHO, und einige definieren den Schweregrad überhaupt nicht (6,5 %).
Die meisten Leitlinien (77 %) machen keine Angaben zu Stärke oder Verlässlichkeit der therapeutischen Empfehlung.
Die Spanne empfohlener Medikamente, unabhängig vom Schweregrad, variiert zwischen 1 und 22. Die WHO empfiehlt insgesamt 10 Medikamente.
Am häufigsten empfohlen werden Kortikosteroide (92 %). 80 % der nationalen Leitlinien empfehlen sie für dieselbe Krankheitsschwere wie die WHO. Aber in fast 1 von 10 Leitlinien werden Kortikosteroide bei schwerer Erkrankung nicht empfohlen, trotz überwältigender Evidenz für ihre Wirksamkeit.
Etwa die Hälfte der Leitlinien (51 %) empfiehlt Remdesivir für schwere oder kritische COVID-19-Erkrankungen. Die WHO empfiehlt Remdesivir dagegen nur bedingt für Patienten mit leichter Erkrankung, aber hohem Hospitalisierungsrisiko.
Ende 2022 empfahlen noch immer viele Leitlinien Behandlungen, von denen die WHO abrät: (Hydoxy)Chloroquin, Lopinavir-Ritonavir, Azithromycin, Vitamine und/oder Zink.
33 % der Leitlinien empfehlen mindestens einen neutralisierenden monoklonalen Antikörper gegen SARS-CoV-2, allesamt Leitlinien, die von wohlhabenderen Ländern herausgegeben wurden.
Von der WHO wurden zum Untersuchungszeitpunkt Sotrovimab and Casirivimab-Imdevimab empfohlen.; sie fanden sich in jeweils rund 22 % der nationalen Leitlinien.
Aber auch die monoklonalen Antikörper Bamlanivimab mit oder ohne Etesivamab sowie Regdanivimab fanden sich konsistent in den nationalen Leitlinien, obwohl sie von der WHO nicht empfohlen wurden.
Noch immer werden unwirksame Substanzen empfohlen
„Es ist nicht nachvollziehbar, dass Substanzen wie etwa Hydroxychloroquin oder Vitamine heute noch in Leitlinien empfohlen werden“, kommentiert der Hamburger Intensivmediziner Kluge.
Die Datenlage bei Remdesivir oder Paxlovid sei dagegen eindeutig, so dass bei Verfügbarkeit eine Empfehlung ausgesprochen werden sollte, ergänzt er. Bei den monoklonalen Antikörpern änderten sich die Empfehlungen schnell, wie man etwa am Beispiel Sotrovimab sehen könne.
Die Forschenden um Cokljat räumen ein, dass das in ihrer Analyse verwendete Scoring-System nicht validiert sei, und auch, dass nicht alle nationalen Leitlinien überprüft werden konnten, limitiere die Aussagekraft der Studie.
Dennoch stelle sich die Frage, weshalb sich nationale Leitlinien für die Behandlung einer so verbreiteten und potenziell schwerwiegenden Infektion so stark unterschieden, wenn alle Zugriff auf die gleichen Informationen hätten. „Abgesehen von der Unerschwinglichkeit mancher Medikamente in einigen ressourcenschwachen Settings, fällt uns dafür keine zufriedenstellende Erklärung ein“, schreiben sie.
Forschungschaos in der Anfangszeit der Pandemie
Sie spekulieren, dass das Forschungschaos in der Anfangszeit der Pandemie eine Rolle gespielt haben könnte. Es habe viele verwirrende Behauptungen und Gegenbehauptungen gegeben, die durch das intensive politische und mediale Interesse nur noch verstärkt worden seien. „In dieser Situation fühlten sich viele Länder unter Druck, irgendetwas zu sagen, irgendetwas zu tun, selbst wenn es auf sehr wenig Evidenz basierte“, erklären sie weiter.
Leitlinienautor Kluge betont, dass auch der Zulassungsstatus und die lokale Verfügbarkeit von Medikamenten Therapieempfehlungen beeinflussen könnten, insbesondere im internationalen Vergleich. Und auch bei unklaren Datenlagen zu spezifischen Medikamenten könnten nationale Leitlinien voneinander abweichen.
Er ergänzt, dass die Empfehlungen der WHO stärker auf Settings mit mittlerem und niedrigem Einkommen fokussiert seien. Für die deutsche Leitlinie habe man spezifische Kriterien für die Priorisierung von Endpunkten sowie die Evidenzbewertung berücksichtigt, die sich von globalen Vorgaben, wie denen der WHO, unterschieden.
Wäre ein formalisierter Entwicklungsprozess hilfreich?
Klar sei, dass es zwischen den nationalen Leitlinien zur COVID-19-Therapie mehr Unterschiede gebe, als sich durch geografische Variation der antiviralen Suszeptibilität des Virus und unterschiedliche Bevölkerungen erklären ließe, so die Forschenden um Cokljat.
Sie schlagen vor, den Entwicklungsprozess nationaler Leitlinien für COVID-19 und andere Infektionskrankheiten zu formalisieren. Nur so könne sichergestellt werden, dass die Empfehlungen auf der besten verfügbaren Evidenz basierten.
„Ein systematischer und strukturierter Ansatz würde nicht nur die Glaubwürdigkeit der Leitlinien verbessern, sondern auch ihre Effektivität bei der Umsetzung öffentlicher Gesundheitsmaßnahmen, insbesondere in der Situation einer Pandemie.“
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