Nobelpreis für Medizin geht an Svante Pääbo

Stockholm – Der diesjährige Nobelpreis für Physiologie oder Medizin geht an den Leiter des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Der schwedische Forscher wird ausgezeichnet „für seine Entdeckungen über die Genome ausgestorbener Hominini und die menschliche Evolution“. Pääbo war es gelungen, das Genom vom Neandertaler, einem ausgestorbenen Verwandten des heutigen Menschen, zu sequenzieren. Es folgte die Entdeckung eines bisher unbekannten Verwandten von Homo sapiens, dem Denisova-Menschen. Pääbo fand auch heraus, dass nach der Auswanderung aus Afrika vor etwa 70.000 Jahren ein Gentransfer von diesen inzwischen ausgestorbenen Hominini auf den Homo sapiens stattgefunden hatte.
Der Biologe und Mediziner (ohne Abschluss) Svante Pääbo gilt als der Begründer der Paläogenetik, die in den Überresten von früheren Organismen nach genetischen Spuren sucht. Bereits mit Ende 20 gelang dem studierten Ägyptologen 1984 die Klonierung der DNA einer 2.400 Jahre alten Mumie (Nature 1985, 314: 644-645). Der erste Durchbruch war 1997 die Sequenzierung von mitochondrialer RNA aus einem Knochenfund aus dem Neandertal (Cell 1997; 90: 19-30). Im Schatten des Human Genome Projekts gelang 2006 die Analyse von 1 Mio. Basenpaaren aus der Zellkern-DNA des Erbguts eines Homo neanderthalensis (Nature 2006; 444: 330-336). Im Jahr 2010 wurde der Entwurf eines kompletten Erbguts mit mehr als 4 Mio. Basenpaaren publiziert (Science 2010; 328: 710-722).
Überraschenderweise waren die Ähnlichkeiten zum Genom von Europäern und Ostasiaten größer als zu Afrikanern. Pääbo schloss daraus, dass nach der Auswanderung der Menschen aus Afrika ein Genaustausch mit den Neandertalern stattgefunden haben muss. Diese Introgression hat dazu führt, dass 1,5 bis 2,1 % des Genoms des heutigen Menschen in Europa und Asien vom Homo neanderthalensis stammen.
Inzwischen war Pääbo, der begonnen hatte, weltweit in Knochen und Zähnen nach der DNA menschlicher Vorfahren zu suchen, in einer Höhle im sibirischen Altaigebirge auf die gut erhaltene DNA von Hominini gestoßen, die weder zu Homo sapiens noch zu Homo neanderthalensis passten. Pääbo hatte als dritte Gruppe den Denisova-Menschen entdeckt, dessen Genom 2012 veröffentlicht wurde (Science 2012; 338: 222-226). Der Denisova-Mensch war kein isolierter Stamm aus dem abgelegenen Sibirien. Es gab Beziehungen bis in die Südsee. Das heutige Erbgut der Melanesier stammt zu 4 bis 6 % vom Denisova-Menschen ab. Die Introgressionen waren nicht die Folge eines einmaligen Ereignisses. Sie sind nach heutigem Kenntnisstand mehrmals aufgetreten. Dabei sind offenbar auch einige Neandertaler-Gene ins Erbgut der heutigen afrikanischen Bevölkerung gelangt.
Mittels der Paläogenetik lassen sich nicht nur Bevölkerungsbewegungen in der Vorgeschichte aufspüren. Die von Neandertaler und Denisova-Menschen geerbten Gene haben auch Einfluss auf die Physiologie der heutigen Menschen. So verdankt die Bevölkerung im Tibet ihre Fähigkeit, im Hochland zu leben, einer Variante des EPAS1-Gens, die wohl zuerst bei Denisova-Menschen aufgetreten ist (Nature 2014; 512: 194-197). Die Variante erhöht die Produktion von Hämoglobin und verbessert den Sauerstofftransport im Blut.
Die Introgression könnte auch das Immunsystem des heutigen Menschen verändert haben. Varianten in den Toll-like-Rezeptoren TLR6, TLR1 und TLR10 könnten zum einen die natürliche Abwehr von Viren und Bakterien so weit verbessert haben, dass sie bis heute im Erbgut der Eurasier vorhanden sind (Am J Hum Genet 2016: 98: 22-33). Sie könnten aber auch die Neigung zu Allergien gefördert haben, deren Häufigkeit in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen hat. Eine Variante im Gen STAT2 erleichtert die Abwehr gegen Viren.
Der Nutzen war für die Bevölkerung in Melanesien offenbar so groß, dass die Variante dort 10 Mal häufiger ist als in Eurasien, von wo das Neandertaler-Gen ursprünglich stammt (Am J Hum Genet 2012; 91: 265-274). Neandertaler-Varianten in einem anderen Gen, OAS1, haben sich in Eurasien ausgebreitet, weil sie die Resistenz gegen Viren verstärken (Mol Biol Evol 2013; 30: 798-801).
Jüngste Studien von Pääbo und Mitarbeitern zeigen, dass von Neandertalern geerbte Allele auf den Chromosomen 3 und 12 Menschen im Fall einer Infektion mit SARS-CoV-2 vor einem Lungenversagen schützen können (Nature 2020; 587: 610-612). Der Genaustausch mit Neandertalern und Denisova-Menschen könnte deshalb von Bedeutung für die Überwindung der aktuellen Pandemie sein.
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