Politik

Nordrhein-Westfalen verhängt wegen Ausbruch bei Tönnies regionalen Lockdown

  • Dienstag, 23. Juni 2020
/picture alliance, Friso Gentsch
/picture alliance, Friso Gentsch

Gütersloh/Düsseldorf – Der SARS-CoV-2-Ausbruch beim Fleischverarbeiter Tönnies hat weitreichende Folgen. Kurz vor Beginn der Sommerferien in Nordrhein-Westfalen (NRW) schränken die Behörden das öffentliche Leben im Kreis Gütersloh und im Kreis Warendorf massiv ein.

Erstmals in Deutschland werde ein gesamter Kreis wegen des Infektionsgeschehens wie­der auf die strengen Pandemieschutzmaßnahmen zurückgeführt, die noch vor einigen Wochen landesweit gegolten hätten. Das sagte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) heute morgen in Düsseldorf.

Am Nachmittag kündigte NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) den Lock­down für den Kreis Warendorf an. Genau wie im Kreis Gütersloh gebe es Kontaktbe­schrän­­kungen, Sport in geschlossenen Räumen und zahlreiche Kulturveranstaltungen würden verboten, sagte er.

Im westfälischen Kreis Gütersloh handele es sich um das bisher „größte Infektionsge­sche­hen“ in NRW und auch deutschlandweit, betonte der Regierungschef. Die Maßnah­men sollen von morgen zunächst bis zum 30. Juni gelten – allen voran auch wieder ein Kontaktverbot. Im öffentlichen Raum dürfen sich die Bewohner eine Woche lang nur noch mit Personen des eigenen Hausstands bewegen oder zu zweit.

Zudem verbieten Behörden im Landkreis nach dem neuen Sicherheitspaket Sport in ge­schlossenen Räumen sowie zahlreiche Kulturveranstaltungen. Fitnessstudios werden La­schet zufolge im Kreisgebiet ebenso geschlossen wie Kinos und Bars.

Der Lockdown bedeute zwar kein Ausreiseverbot, meinte Laschet mit Blick auf geplante Urlaubsreisen. Seine Aussagen blieben aber in diesem Punkt eher unscharf. Einerseits sagte der CDU-Politiker auf eine Frage, ob Bewohner des Kreises Gütersloh in Ferien fah­ren dürften: „Wer Urlaub plant, kann das natürlich machen.“ Zugleich „appellierte“ er aber an die Bewohner, „jetzt nicht aus dem Kreis heraus in andere Kreise zu fahren“. Und er­gänzte: „Das wird auch kontrolliert werden.“

Auf der Urlaubsinsel Usedom waren am vergangenen Montag 14 Reisende aus Corona-Risiko-Gebieten angehalten worden, vorzeitig abzureisen. Sie sollten sich bei ihrem hei­mischen Gesundheitsamt melden, sagte ein Sprecher des Kreises Vorpommern-Greifs­wald. Auch ein Ehepaar aus Gütersloh sei aufgefordert worden, die Insel vorzeitig zu ver­lassen. Ob auch die anderen betroffenen Urlauber alle aus dem Kreis Gütersloh kommen, war zunächst unklar. Laschet warnte davor, die Menschen aus dem Kreis Gütersloh unter „Pau­schalverdacht“ zu stellen. Man dürfe sie „nicht stigmatisieren“.

Mehr Tests

Grund für den regionalen Lockdown ist der Massenausbruch beim Fleischverarbeiter Tön­nies. Man stufe das bisher eine „klar lokalisierte Infektion“ ein, unterstrich Laschet. Beim Schlachtbetrieb des Marktführers im westfälischen Rheda-Wiedenbrück habe es 1.952 positive Befunde auf SARS-CoV-2 gegeben, teilte der Kreis Gütersloh heute mit.

Am Vortag habe diese Zahl noch bei 1.696 gelegen. Davon gelten 703 als genesen, 1.228 seien noch infi­ziert. 1.201 Menschen aus dieser Gruppe befinden sich in häuslicher Qua­rantäne, heißt es in der Mitteilung.

Der Kreis weist daraufhin, dass in der veröffentlichten Statistik vorerst nicht mehr nach Tönnies-Mitarbeitern und Personen ohne Bezug zu dem Schlachtbetrieb unterschieden werde. Es sei zu Doppelzählungen in den Wohnungen und auf dem Werksgelände ge­kommen. Zahlen zu den Reihentests seien in den vergangenen Tagen fehlerhaft ver­öffentlicht worden. Die Behörden würden die Tests in der Bevölkerung massiv ausweiten.

Die SPD-Landtagsfraktion begrüßte das Herunterfahren des öffentlichen Lebens im Land­kreis. „Der Lockdown ist die einzig richtige Entscheidung zum Schutz der Gesundheit der Menschen. Aber sie kommt mal wieder zu spät“, sagte Fraktionschef Thomas Kutschaty der Rheinischen Post. Laschet habe noch am vergangenen Sonntag von einem Lockdown nichts wissen wollen und müsse sich jetzt mit seinem „Schlingerkurs“ selbst korrigieren.

Schwierig und zugleich von zentraler Bedeutung ist die Einhaltung der Quarantäne: Rund 7.000 Tönnies-Mitarbeiter wurden mitsamt ihren Familien seit einigen Tagen in häusliche Isolation geschickt. Die Landesregierung habe drei Einsatzhundertschaften der Polizei in den Kreis Gütersloh geschickt, schilderte Laschet.

Die Polizisten sollten die Quarantäne der Tönnies-Mitarbeiter kontrollieren. Die Polizei werde mobile Testteams begleiten. Zur Not müssten die Behörden Anordnungen auch mit Zwang durchsetzen. Es werde auch weitere humanitäre Maßnahmen zur Unterstüt­zung der Betroffenen geben.

Schulen und Kitas im Landkreis Gütersloh mit rund 370.000 Einwohnern waren bereits am 17. Juni geschlossen worden. Für die größte deutsche Fleischfabrik war zudem ein vo­rübergehender Produktionsstopp verhängt worden. Auch für den Kreis Warendorf kündig­te Laschet Maßnahmen an. Diese sollten aber „nicht flächendeckend“ sein, sondern für Orte gelten, die an den Kreis Gütersloh grenzen.

Dem massiv unter Druck geratenen Branchenriesen Tönnies warf Laschet mangelnde Kooperationsbereitschaft vor. Daher hätten die Behörden die Herausgabe von Daten der Werkarbeiter durchsetzen müssen. „Da wurde nicht mehr kooperiert, da wurde verfügt.“

Schwellenwert für Neuinfektionen auch in Warendorf überschritten

Nach dem Ausbruch bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück war heute auch im benach­barten Kreis Warendorf der festgelegte Schwellenwert für Neuinfektionen überschritten worden. Laut Robert-Koch-Institut wurden heute (Stand 0 Uhr) 68,4 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern für den Kreis Warendorf erfasst. 50 Fälle gelten als Grenze für zusätzliche Schutzmaßnahmen.

Warendorfs Landrat Olaf Gericke (CDU) hatte die Neuinfektionen gestern Nachmittag auf die 1.243 im Kreisgebiet wohnenden Tönnies-Mitarbeiter zurückgeführt. Sie stehen unter Quarantäne. Der Landrat hatte an die Bür­ger appelliert, „weiterhin vorsichtig zu sein und die bekannten Abstands- und Hygie­neregeln einzuhalten“.

Zudem würden auch im Kreis Warendorf kostenfreie Tests ermöglicht für alle, die in be­sonders betroffenen Orten wohnten oder sich verständlicherweise Sorgen machten – etwa, weil sie Kontakt zu Tönnies-Mitarbeitern hatten. Solche Tests seien an zentralen Standorten möglich und die Kosten würden von Tönnies übernommen.

Das Robert-Koch-Institut (RKI) setzt bei der Bewältigung der Ausbrüche großes Vertrauen in die lokalen Behörden. Über Maßnahmen zur Eindämmung müsse vor Ort entschieden werden, sagte RKI-Präsident Lothar Wieler heute in Berlin. Weil Zahlen für sich genomm­en nicht so aussagekräftig seien, müssten Verantwortliche vor Ort etwa auch beurteilen, ob es sich um einen begrenzten Ausbruch handle oder ob die Gefahr einer Ausbreitung bestehe.

Ute Rexroth, Leiterin des Fachgebiets Surveillance am RKI, sagte, die lokalen Behörden seien sehr wachsam, Fälle würden relativ früh erkannt. Welche Maßnahmen genau ge­troffen würden, müsse unter Abwägung der Gesamtsituation entschieden werden.

Warum es besonders in der Fleischindustrie vermehrt hohe Zahlen von Infizierten gibt, kann Lothar Wieler nicht sagen. Er verweis zum einen auf die Wohnsituation der Arbeiter in der Fleischindustrie, aber auch auf die niedrigen Temperaturen in den Schlachthöfen.

„Wir gehen davon aus, dass es ‚sowohl ... als auch‘ ist“, sagte Wieler. In engen Wohnun­gen habe es das Virus einfacher, dass sei einer der Grundregeln, sagte der RKI-Präsident. Niedrige Temperaturen, um das Fleisch zu kühlen, könnten bei der Übertragung des Virus ebenso eine Rolle spielen, wie Aerosole, bei der über die Luft Stoffe übertragen werden.

dpa

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