Ärzteschaft

Pandemie und Kinder: Psychische Belastungen nach wie vor hoch

  • Donnerstag, 26. Mai 2022
Martin Holtmann, Ärztlicher Direktor der Fachklinik für Kinder und Jugendpsychiatrie an der LWL-Universitätsklinik Hamm /Jürgen Gebhardt
Martin Holtmann, Ärztlicher Direktor der Fachklinik für Kinder und Jugendpsychiatrie an der LWL-Universitätsklinik Hamm /Jürgen Gebhardt

Bremen – Einen umfassenden Blick auf die Auswirkungen der Coronapandemie für die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen warf Martin Holtmann, Ärztlicher Direktor der Fachklinik für Kinder und Jugendpsychiatrie an der LWL-Universitätsklinik Hamm, beim 126. Deutschen Ärztetag.

„Der erste Lockdown ab März 2020, der rund sieben Wochen dauerte, war für die meisten Kinder und Jugendlich noch spannend. Sie hatten plötzlich schulfrei und dachten nach den Osterferien sei alles wieder vorbei“, beschrieb Holtmann die Situation zu Beginn der Pandemie.

Der zweite Lockdown ab Dezember 2020, der rund sieben Monate dauerte, habe hingegen für die meisten chronischen Stress bedeutet. Insbesondere Heranwachsende aus sozioökonomisch prekären Verhältnissen, die einen Migrationshintergrund haben oder in räumlicher Enge leben, seien besonders betroffen gewesen, erklärte Holtmann.

Dennoch dürfe man nicht von einer „verlorenen Generation“ sprechen. „Viele Kinde rund Jugendliche sind erschöpft, aber auch sehr anpassungsfähig. Manche sind sogar an den Herausforderungen gewach­sen“, sagte der Kinder und Jugendpsychiater.

Level an psychsischer Belastung immer noch höher als vor der Pandemie

Entscheidend sei immer die Dauer einer Belastung, denn Resilienz sei nur bedingt strapazierbar. Beson­ders gut seien diejenigen Kinder und Jugendlichen durch die Pandemie gekommen, die ein Elternhaus mit einem guten Familienklima und enge Bezugspersonen hatten.

Selbst- und Emotionsregulation und Selbst­wirksamkeit seien begrenzt erlern- oder trainierbar. Doch dieses Resilienzkonzept stoße bei Stress, Erschöpfung prekären Verhältnissen oder Krankheit auch an seine Grenzen.

„Wir haben immer noch ein deutlich höheres Level an psychischen Belastungen als vor der Pandemie“, konstatierte Holtmann. Im Auge behalten müsse man in jedem Falle die dysfunktionale Mediennutzung, die in der Pandemie zugenommen habe. Verdoppelt habe sich insbesondere bei den Jungen die Medien­abhängigkeit.

In seiner Klinik hätten die akuten Notfälle in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zugenommen, ebenso seien mehr stationäre Einweisungen seit Sommer 2021 zu verzeichnen, berichtete der Klinikdirektor. Die Zahl junger Patienten mit Depressionen sei deutlich angestiegen. Bei den Magersüchtigen stelle er einen Anstieg von 30 Prozent fest. Auch Angst- und Zwangserkrankungen hätten zugenommen.

Höchste Anzahl von Kindeswohlgefährdungen seit Beginn der statistischen Erhebungen

Schließlich seien 2021 die meisten Kindeswohlgefährdungen seit Einführung der Statistik 2012 festgestellt worden. „Kitas und Schulen müssen bei einer möglichen nächsten Coronawelle offen bleiben“, appellierte der Kinder- und Jugendpsychiater an die Politik. Sie seien der „Grundpfeiler“ für die psychische Gesundheit von Kinder und Jugendlichen und hätten oberste Priorität.

Zudem seien sie Frühwarnsysteme für Auffälligkeiten. Darüber hinaus regte Holtmann einen anhalten­den Ausbau der Schulsozialarbeit in den Schulen an, der mit dem Aktionsprogramm der Bundesregie­rung „Aufholen nach Corona“ eingeführt worden ist. „Die Stellen müssen verfestigt werden, und die Ansprechpartner für die Schüler verlässlich bleiben.“

PB

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