5 Fragen an...

„Bei Priorisierungs­entscheidungen müssen ethisch relevante Faktoren abgewogen werden“

  • Freitag, 23. Oktober 2020

Berlin – Bereits jetzt wird die Einführung einer Impfung gegen SARS-CoV-2 planerisch vorbereitet. Wissenschaftler, Ärzte und auch Ethiker verständigen sich derzeit über eine transparente und allgemein akzeptierte Entscheidungsfindung zur bevorzugten Impfung von bestimmten Bevölkerungsgruppen.

Ziel ist, den effizientesten Einsatz bei begrenzten Impfstoffressourcen abzubilden. Eine gerechte Verteilung des zunächst vermutlich knappen Impfstoffs muss jedoch nicht nur transparent und auf Basis wissenschaftlicher Evidenz erfolgen, sondern auch ethische Aspekte berücksichtigen.

Mit Georg Marckmann, Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medi­zin der Ludwig-Maximillians-Universität München und Mitglied der Zentralen Ethikkom­mission bei der Bundesärztekammer, sprach das Deutsche Ärzteblatt (DÄ) über die ethi­schen Aspekte einer künftigen Impfstoffverteilung.

Prof. Dr. med. Georg Marckmann /privat
Prof. Dr. med. Georg Marckmann /privat

5 Fragen an Georg Marckmann, Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Lud­wig-Maximillians-Universität München.

DÄ: Wie könnte eine faire und gerechte Verteilung eines künftigen Impfstoffs aussehen?
Georg Marckmann: Für eine gerechte Verteilung knap­per Güter müssen allgemein zwei Bedingungen erfüllt sein. Zum einen müssen die Verteilungs­entscheidungen von einer hierfür entsprechend legitimierten Institution in einem fairen Verfahren getroffen werden.

Hierzu gehören unter anderem die Transparenz und Kon­sistenz der Entscheidungen. Zudem müssen sie auf einer nachvollziehbaren Begründung beruhen und die verfügbare wissenschaftliche Evidenz zum Beispiel zu Nutzen- und Schadenspotenzialen der Impfung berück­sich­tigen. Sie sollten relevanten gesell­schaftlichen Gruppen Partizipationsmöglichkeiten bieten und fortlaufend evaluiert werden.

Zum anderen müssen sich die Zuteilungsentscheidungen inhaltlich an klar definierten, ethisch gut begründeten Kriterien orientieren. Eine übergeordnete Zielsetzung einer ge­rechten Impfstoffverteilung könnte beispielsweise darin bestehen, den Schaden durch die COVID-19-Pandemie möglichst weit zu reduzieren, wobei hier neben den Auswir­kungen auf die Gesundheit auch negative soziale und wirtschaftliche Effekte zu berück­sichtigen wären.

Die Impfung sollte dabei Einzelne vor Schaden durch COVID-19 schützen und die Über­tragung des SARS-CoV2-Virus verhindern oder zumindest reduzieren. Eine Benachtei­li­gung beim Zugang zum Impfstoff aufgrund von sozioökonomischem Status oder Wohnort ist zu vermeiden.

DÄ: Welche Gruppen sollten bei der Impfung gegen COVID-19 vorrangig bedacht werden?
Marckmann: Man kann hier drei Gruppen unterscheiden. Zum ersten die Vertreter unter­schiedlicher Gesundheitsberufe, die auch in Zeiten der Pandemie Verantwortung dafür tragen, dass die Gesundheitsversorgung aufrechterhalten wird.

Zum zweiten die Menschen, die in Bereichen tätig sind, die für das öffentliche Leben wich­tig sind oder mit einem hohen Infektionsrisiko einhergehen. Beispiele hierfür sind Menschen, die die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln sicherstellen oder in Schule und Kinderbetreuung tätig sind.

Die dritte Gruppe schließlich sind die Menschen, die ein hohes Risiko schwerwiegender Erkrankungsverläufe haben, also beispielsweise Patienten in hohem Alter mit Vorerkran­kungen.

Gerade zu Beginn der Phase, in der ein Impfstoff zur Verfügung steht, wird eine Heraus­forderung darin bestehen, konkrete Priorisierungsentscheidungen unter Abwägung ethisch relevanter Faktoren zu treffen.

So muss beispielsweise geklärt werden, wer innerhalb und auch zwischen den genannten Gruppen zuerst Zugang zu einem Impfstoff erhalten soll. Das Risiko für eine Infektion in Abhängigkeit von der Inzidenz vor Ort oder auch der Zugang zu Schutzmaterialien als vorübergehende alternative Schutzmaßnahmen sind Beispiele für Faktoren, die hier be­dacht werden müssen.

DÄ: Welche Institutionen sollten in Deutschland an einer möglichen Impfstoffpriorisie­rung beteiligt werden?
Marckmann: Da die Impfstoffverteilung Auswirkungen auf die Lebenschancen von Men­schen hat, sollte sie idealerweise auf Vorgaben durch den Gesetzgeber oder durch ihn entsprechend legitimierte Institution beruhen. Der Deutsche Ethikrat könnte mit ethi­schen Überlegungen zu einer Impfstoffpriorisierung einen wertvollen Beitrag zum politi­schen Entscheidungsprozess leisten.

Nicht zuletzt wären einschlägige wissenschaftliche Fachdisziplinen und Organisationen zu beteiligen, wie beispielsweise das Kompetenznetz Public Health COVID-19 oder die Ständige Impfkommission (STIKO) beim Robert-Koch-Institut, die bereits Stellungnahmen zum Thema Impfstoffpriorisierung erarbeitet haben.

DÄ: Welchen Beitrag können die Fachwissenschaften bei der Impfstoffpriorisierung leis­ten?
Marckmann: Für die Umsetzung der demokratisch legitimierten Zuteilungskriterien ist – wie bei der Organallokation – Fachwissen unverzichtbar, vor allem aus den Bereichen Infektiologie und Public Health, aber auch aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit sozialen und wirtschaftlichen Implikationen der Pandemie befassen.

Um Schaden durch COVID-19 bestmöglich verhindern zu können, benötigen wir ins­be­sondere Informationen über das Infektionsrisiko, das Risiko für schwerwiegende Verläufe und die Effektivität des Impfstoffs in verschiedenen Bevölkerungsgruppen:

Welche Bevölkerungsgruppen haben ein besonders hohes Risiko, sich mit COVID-19 zu infizieren beziehungsweise die Erkrankung zu übertragen? Welche Patienten haben ein besonders hohes Risiko für einen schwerwiegenden Krankheitsverlauf und sollten des­halb Vorrang beim Zugang zur Impfung haben?

Inwieweit kann die Impfung nicht nur vor einer schweren COVID-19-Erkrankung schüt­zen, sondern zudem auch die Übertragung der Infektion verhindern? Mit welcher Priori­sierung des Impfstoffs kann die Ausbreitung der Pandemie am effektivsten kontrolliert werden?

DÄ: Angesichts der globalen Ausdehnung der Pandemie, wer sollte auf internationaler Ebene in eine gerechte Impfstoffverteilung involviert sein?
Marckmann: Analog zu den Anforderungen an die Priorisierung auf nationaler Ebene müssen die entsprechenden Akteure für ihre Rolle bei der Verteilung legitimiert sein.

Weiterhin müssen sie in der Lage sein, durch Transparenz, wissenschaftliche Fundierung und die Anwendung begründeter Kriterien bei der Verteilung das Vertrauen der Bevöl­ke­rungen zu rechtfertigen.

Korruption im Sinne eines entsprechend der vereinbarten Kriterien nicht gerechtfertigten Zugangs zu Impfstoff muss verhindert werden. Auf der internationalen Ebene könnte eine solche Institution die WHO sein, die ja auch bereits Vorschläge zur globalen Verteilung entwickelt hat.

ER

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