5 Fragen an...

„Die Arbeit an Nicht-SARS-CoV-2-Pro­jekten war zeitweise formal nicht mehr erlaubt“

  • Montag, 22. März 2021

Berlin – Die Coronapandemie hat der Forschung rund um die Bekämpfung von SARS-CoV-2 einen gewal­ti­gen Schub verpasst. In anderen Forschungsbereichen war die wissenschaftliche Arbeit dagegen nur noch schwer fortzuführen. Das Deutsche Ärzteblatt (DÄ) sprach mit der Berliner HIV-Forscherin Christine Goffinet darüber, wie sich die Pandemie in der Nicht-Corona-Forschung ausgewirkt hat.

Christine Goffinet /
Christine Goffinet /Charité – Universitätsmedizin Berlin

5 Fragen an Christine Goffinet, Leiterin der Arbeitsgruppe „Ange­borene Immunität und Virale Evasion“ am Institut für Virologie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin

DÄ: Welche Auswirkungen hatte die Coronapandemie auf Ihre For­schung an HIV?
Christine Goffinet: Wie in vielen anderen Berufssparten auch erle­digen wir nichtexperimentelle Tätig­keiten, wie Daten auswerten oder Manuskripte und Anträge schreiben seit dem letzten Frühjahr weitest­gehend von zuhause; auch Meetings finden fast nur noch virtuell statt.

Für einige Einrichtungen wurde Materialknappheit beschrieben – Plastikmaterial, Handschuhe, Masken gehen prioritär an Klinik und Dia­gnostik für den akuten Bedarf bei der Patientenversor­gung. Durch vorausschauendes zentrales Handeln konnte das aber in Deutschland meist vermieden werden.

Dennoch: Im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 war zeitweise die Arbeit an Nicht-SARS-CoV-2-Projekten formal nicht mehr erlaubt – auch Labore unterliegen Kontaktbeschränkungen. Nur essentielle HIV-Expe­ri­mente, deren Stoppen in einen großen finanziellen oder wissenschaftlichen Schaden gemündet hätte, durften vollendet werden; auch letzte Arbeiten an einer dringend fertigzustellenden Manuskriptrevision waren gerade noch so erlaubt.

DÄ: Gab es Probleme bei der Finanzierung Ihrer Forschung?
Goffinet: Viele Förderorganisationen haben flexibel und auf die Situation angepasst reagiert – die Lauf­zeit unserer DFG-Projekte zu HIV konnte unter leicht erfüllbaren Voraussetzungen verlängert werden. Darüber hinaus konnten wir formlos zusätzliche Gelder für die trotz „Laborlockdown“ weiterlaufenden Personalmittel beantragen.

Diese Maßnahmen verhinderten aber dennoch nicht, dass die Forschung an anderen Viren, wie HIV, de facto eine Zeitlang depriorisiert wurde. Das ist bereits jetzt, und wird zukünftig noch stärker, an der Zahl der Publikationen sichtbar und wird den Fortschritt des Erkenntnisgewinns kurzfristig zunächst sicher­lich beeinträchtigen.

DÄ: Sehen Sie auch positive Auswirkungen auf die Forschung?
Goffinet: Ich erwarte ich, dass der erfreulich schnelle Erfolg bei der SARS-CoV-2-Impfstoffentwicklung den Bemühungen um eine HIV-Vakzine einen neuen starken Schub geben wird – selbst wenn für mich noch nicht direkt ersichtlich ist, ob zum Beispiel die mRNA-Technologie für diesen zweiten heiligen Gral neben der HIV-Heilung ein Game Changer sein wird. Dafür ist HIV dem SARS-CoV-2 in seiner geneti­schen Wandlungsfähigkeit hoffnungslos überlegen.

Ein zu testender Ansatz ist die Verabreichung eines „Cocktail“-Impfstoffs, bestehend aus zahlreichen indi­viduellen HIV-1 Peptid-kodierenden mRNAs, die eine große Anzahl an zirkulierenden Virussequenzen abdecken und eine entsprechend breite Immunität induzieren könnten. Auch die Testung einer breit neutralisierenden antikörperkodierenden mRNA ist in Vorbereitung.

DÄ: Viele Arbeitsgruppen sind in der Krise auf die Coronaforschung umgestiegen, war das bei Ihnen auch der Fall?
Goffinet: Ja, nicht wenige HIV-Forschungsgruppen, die sich bisher nie wissenschaftlich mit Coronaviren beschäftigt haben, haben Teile ihres Forschungsprogramms neu ausgerichtet, wenden ihre Expertisen und bisherige Methodiken in diesem neuen Kontext an.

Meine Arbeitsgruppe hatte im Januar 2020 gerade mit einigem Aufwand die Einzelzellsequenzierungs­technologie etabliert, mit der wir ursprünglich Untersuchungen der HIV-1-Latenz und Mechanismen zur HIV-1-Reaktivierung geplant hatten. Wie unterschiedliche integrierte HIV-1-Proviren in infizierten CD4-T-Zell-Subpopulationen auf pharmakologische Reaktivierung reagieren, ist bisher nicht gut verstanden und mit einer solchen Methode sehr gut zu untersuchen.

Stattdessen entschieden wir uns erst einmal im Rahmen großer Kooperationen für Versuche mit Material von COVID-19-Patienten. Der Wunsch, auch als Nicht-Coronavirologe einen Beitrag zu leisten, und ehrlich gesagt auch die Verlockung an einem gänzlich neuen, akuten, pandemischen Virus von höchster Relevanz zu arbeiten, hat bei vielen ungeahnte Kräfte freigesetzt.

Diese gestiegene Geschwindigkeit und Interdisziplinarität hat aber zugegebenermaßen nicht nur gute Seiten. Der Grat zwischen einem unvoreingenommenen, konstruktiven Blick auf ein neues Virus und dem Verlassen der ureigenen Expertise ist schmal. Auch dass die Datenqualität zunehmend der -quantität weicht, ist ein bereits vor der Coronaviruspandemie existierendes Phänomen, das sich jetzt sogar ver­stärkt hat.

DÄ: Welche Lehren sollten aus den Erfahrungen dieser Pandemie gezogen werden?
Goffinet: Die Pandemie hat deutlich gemacht, welche Kräfte in der Forschung mobilisiert werden können.

Vorausschauendes Agieren wäre aber noch besser gewesen – viele Forschungsprogramme zu Corona­viren standen nach dem Ende der ersten SARS-CoV-Pandemie 2002/2003 unter Rechtfertigungs­druck. Jetzt ist in der breiten Gesellschaft angekommen, wie wichtig die prospektive Erforschung von pathoge­nen Infektionserregern mit Zoonosepotential ist. Damit meine ich natürlich nicht nur Coronaviren, HIV/AIDS ist schließlich ebenfalls eine klassische Zoonose.

Übrigens wird SARS-CoV-2/COVID-19 mit Sicherheit nicht die letzte Pandemie gewesen sein. Spätestens jetzt wäre es angebracht, der Infektionsforschung insgesamt eine weitaus höhere Priorität als bisher zuzugestehen.

So spannend übrigens das neue SARS-CoV-2 ist, meine Arbeitsgruppe widmet sich wieder verstärkt einer weiterhin dringenden Fragestellung der HIV-Forschung, nämlich der Verbesserung von HIV-1-Heilungs­strategien, von denen trotz intensiver Bemühungen bislang keine einzige funktioniert. Unsere Einzelzell­sequenzierungsanalysen in latent HIV-1-infizierten T-Zellen hierzu haben wir übrigens inzwischen auch erfolgreich durchgeführt.

nec

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