„Die Ökonomisierung wird weiter voranschreiten“
Hemmingen – Robin Maitra ist Landarzt in Baden-Württemberg. Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt erzählt er, was ihn am deutschen Gesundheitssystem stört, was die nächste Bundesregierung am dringendsten angehen muss und warum er seine Arbeit trotz mancher systembedingter Unzulänglichkeiten liebt.

Fünf Fragen an Robin Maitra, hausärztlicher Internist in Hemmingen
DÄ: Wie bewerten Sie das deutsche Gesundheitssystem?
Maitra: Das deutsche Gesundheitssystem ist sehr gut: Solidarisch finanziert erlaubt es fast allen Bürgern des Landes einen schnellen Zugang zur Hochleistungsmedizin. Und das ist ein enorm hohes Gut. Es gibt jedoch auch Nachteile: Das System ist relativ teuer. Und es gibt ein paar Ungleichheiten, die wir alle kennen. Einen Termin für eine Kernspintomografie bekomme ich für meine Patienten einfach schneller, wenn sie privat versichert sind. Zudem gibt es nach wie vor Menschen, die keinen vollen Zugang zum System haben: Flüchtlinge und Menschen ohne Papiere oder festen Wohnsitz.
Als problematisch empfinde ich vor allem den zunehmenden ökonomischen Druck, dem wir alle ausgesetzt sind, Klinik- und Vertragsärzte ebenso wie die Patienten. Im ambulanten Bereich erlebe ich diesen Druck zum Beispiel, wenn mir meine Praxissoftware anzeigt, welche Arzneimittel ich besser nicht verordnen sollte, wenn ich mich keinem Regressrisiko aussetzen will. Zudem erlebe ich zunehmend, dass Patienten am Freitagnachmittag vorzeitig aus dem Krankenhaus entlassen werden und die medizinische und pflegerische Versorgung übers Wochenende neu organisiert werden muss. Diese Dinge haben in den vergangenen Jahren zugenommen.
DÄ: Wie ist die Stimmung bei Ihnen und Ihren Kollegen?
Maitra: Also, zunächst einmal: Wir haben einen Superjob! Ich bin jetzt seit 24 Jahren Arzt und habe es nie bereut, diesen Beruf ergriffen zu haben. Ich habe sehr viel Freiheit bei der Gestaltung meiner Arbeit, ich kann gemeinsam mit meinen Patienten Entscheidungen treffen. Zudem erhalten wir eine hohe Anerkennung durch unsere Patienten und die Gesellschaft. Trotzdem würde ich die Stimmung eher als sorgenvoll bezeichnen. Das liegt an dem zunehmenden Ärztemangel in unserer Region. In unserem Bezirk liegt das Durchschnittsalter bei den Hausärzten heute bei 59 Jahren. Sechs oder sieben Hausärzte in meiner direkten Umgebung sind in einem Alter, in dem sie sofort ihre Praxis übergeben könnten. Wir sorgen uns, weil wir nicht wissen, wie es in den nächsten fünf Jahren weitergehen soll.
DÄ: Welche drei Aspekte ärgern Sie am meisten am deutschen Gesundheitswesen?
Maitra: Also, erstens das Finanzierungssystem. Das System, das wir haben, hat uns in die Ökonomisierung geführt, von der ich gesprochen habe. Ich finde, dass alle gleichermaßen zur Finanzierung unseres Gesundheitssystems beitragen müssen, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, Selbstständige und Beamte ebenso wie Angestellte. Zweitens ärgert mich das DRG-System im Bereich der stationären Versorgung. Es hat zu immer kürzeren Liegezeiten und zu einer immer stärkeren Arbeitsverdichtung bei den Kollegen im Krankenhaus geführt. Keiner ist heute mit dem DRG-System zufrieden. Da müssen wir eine neue Lösung finden. Schließlich ärgert es mich, dass das ganz große Problem der Versorgung in ländlichen Gebieten noch nicht wirklich angegangen wurde. Wir müssen dafür sorgen, dass unser eigener Nachwuchs in die Versorgung gehen möchte, zum Beispiel durch intelligentere Arbeitszeitmodelle und mehr Frauen in Führungspositionen. Heute ist das System überaltert. Das müssen wir dringend ändern.
DÄ: Hat sich die Situation aus Ihrer Sicht in den vergangenen fünf bis zehn Jahren verschlechtert?
Maitra: Aus meiner Sicht hat sich die Situation sowohl verbessert als auch verschlechtert. Medizinisch ist heute viel mehr möglich als noch vor zehn bis 20 Jahren. Das finde ich sehr positiv. Negativ finde ich, dass dabei das therapeutische Gespräch weiter in den Hintergrund gedrängt wurde. Eine Änderung in unserer Gesellschaft, die mir in meinem Umfeld sehr auffällt, ist, dass immer mehr osteuropäische Pflegekräfte viele meiner alten Patientinnen und Patienten zu Hause betreuen. Sie stellen zunehmend eine eigene Säule der Versorgung in Deutschland dar. Das war vor zehn Jahren noch ganz anders.
Gut ist, dass diese Pflegerinnen inzwischen sozialversicherungsrechtlich abgesichert sind. Dennoch haben sie Arbeitsbedingungen, die man selbst nicht haben möchte: zum Beispiel mehrere Wochen am Stück in 24-Stunden-Schichten. Verbessert hat sich bei uns Ärzten die Honorierung. Das kann man auch einmal sagen: Wir Ärzte hier in Baden-Württemberg leisten viel, wir verdienen aber auch gut.
DÄ: Welche drei Missstände müssten die Gesundheitspolitiker in der kommenden Legislaturperiode aus Ihrer Sicht am dringendsten angehen?
Maitra: In der nächsten Legislaturperiode muss die Regierung auf jeden Fall eine Entscheidung darüber treffen, wie das System auch zukünftig finanziert werden kann.
Denn die Ökonomisierung wird weiter voranschreiten, wenn wir keine grundsätzliche Zäsur machen. Wir müssen auf gesellschaftlicher Ebene entscheiden, ob wir uns unser hervorragendes Gesundheitssystem weiter leisten wollen oder nicht. Ich glaube, die Bürger wollen es sich leisten, bei derzeit gedeckeltem Arbeitgeberbeitrag aber nicht alleine für die künftigen Mehrkosten durch steigende Morbidität und zunehmend teurere Therapieoptionen aufkommen.
Außerdem muss die Politik die Digitalisierung im Gesundheitswesen sinnvoll voranbringen. Das Hin und Her bei der elektronischen Gesundheitskarte kann man ja nun wirklich nicht mehr hören. Trotzdem – oder umso mehr – müssen wir Möglichkeiten finden, wie wir die Patienteninformationen zusammenführen können. Denn das würde die Qualität der Versorgung enorm verbessern – allein schon bei der Medikation.
Schließlich muss die Politik dringend Anreize dafür schaffen, dass sich Ärztinnen und Ärzte im ländlichen Raum niederlassen, entgegen anderer Positionen halte ich in diesem Zusammenhang eine Landarztquote für denkbar. Ich finde es absolut unverständlich, dass die Politik die Anzahl der Studienplätze nicht im Rahmen ihres Masterplans Medizinstudium erweitern will. Denn es ist doch absehbar, dass die hausärztliche Versorgung im ländlichen Raum bald nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Vor einigen Wochen erst hat ein Kollege seine Praxis geschlossen. Eine Kollegin aus dem Nachbarort und ich versorgen jetzt die Patienten. Aber in absehbarer Zeit werde ich keine weiteren Patienten mehr aufnehmen können. Und bei den Kinderärzten ist die Situation noch schlimmer. Unsere Kapazitäten und auch der ärztliche Arbeitstag sind einfach begrenzt.
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