„Soziale Medien werden dafür genutzt ‚Thinspiration‘ und ‚Fitspiration‘ zu verbreiten“
Berlin/London – Binge Eating, Bulimie und Anorexia nervoa: Weltweit ist die Zahl der Essstörungen nach der Coronapandemie angestiegen. Einen nicht unerheblichen Einfluss darauf, was wir essen, wie wir essen und wie wir uns dabei fühlen, haben gesellschaftliche Normen und Ansprüche.
Wie diese aussehen, berichtet die Psychiaterin Ulrike Schmidt vom King's College in London dem Deutschen Ärzteblatt im Vorfeld des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).

Fünf Fragen an Ulrike Schmidt, Institute of Psychiatry, Psychology & Neuroscience, King's College London
Inwieweit beeinflusst die Gesellschaft die Entstehung von Essstörungen?
Essstörungen scheinen in sogenannten WEIRD-Ländern zu gedeihen, das heißt in westlichen, gebildeten, industrialisierten, reichen, demokratischen Ländern (Western, Educated Industrialised Rich Democratic Countries).
Wir haben eine Ernährungskultur, in der wir rund um die Uhr Zugang zu billigen, kalorienreichen und schmackhaften Lebensmitteln haben, die mit Fett, Zucker und Salz beladen sind. Wir essen unterwegs und naschen viel, was es leicht macht, sich zu überessen und zuzunehmen.
Parallel dazu gibt es gesellschaftliche Schönheitsideale für schlanke Frauen und für muskulöse junge Männer. Diese Kombination hat einen großen Einfluss auf die Entstehung von Essstörungen und Essverhaltensstörungen.
Diese Schönheitsnormen „verbreiten“ sich auch in anderen Kulturen: Studien über Jugendliche, die in traditionellen nicht westlichen Kulturen aufwachsen, zum Beispiel auf den Fidschi-Inseln, haben gezeigt, dass nach der Ausstrahlung US-amerikanischer Teenager-Fernsehserien bei jungen Menschen auf den Fidschi-Inseln Probleme mit dem eigenen Körperbild und Essstörungen auftraten.
In westlichen Kontexten ist die Unzufriedenheit mit dem Körperbild unter jungen Menschen inzwischen allgegenwärtig. Eine Störung des Körperbilds ist also allein wahrscheinlich nicht ausreichend, um eine Essstörung zu verursachen. Eine wichtige Rolle spielen auch genetische und persönlichkeitsbedingte Merkmale wie Perfektionismus und umweltbedingte Faktoren. Dazu zählen Beziehungsschwierigkeiten, Mobbing oder Hänseleien.
Welchen Einfluss haben Soziale Medien?
Die Nutzung sozialer Medien hat viele Facetten, die problematisch sein können. Aus großen bevölkerungsbasierten Längsschnittstudien wissen wir, dass exzessive Nutzung sozialer Medien das Risiko erhöht, dass junge Menschen ein Jahr später unglücklicher sind. Am stärksten gefährdet sind junge Menschen in der Zeit um die Pubertät und zu Beginn des jungen Erwachsenenalters, also im Alter von 18 bis 19 Jahren.
Soziale Medien werden dafür genutzt „Thinspiration“ und „Fitspiration“ zu verbreiten oder darauf zuzugreifen, was von großer Bedeutung für die Entstehung von Essstörungen ist. Das sind Inhalte, mit denen versucht wird, völlig pathologische Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Essstörungen als harmlose Lifestyle-Entscheidungen oder Diättipps auszugeben.
Junge Menschen suchen vielleicht zunächst ganz unschuldig nach solchen Inhalten, aber die Algorithmen der Social-Media-Unternehmen führen dazu, dass man schnell mit immer mehr der gleichen wenig hilfreichen oder gefährlichen Inhalten bombardiert wird.
Wie kann man diese gegebenenfalls begrenzen und sich selbst schützen?
Es hilft, die Zeit, die man mit sozialen Medien verbringt, zu reduzieren, vielleicht sogar einen Social-Media-Detox zu machen. Aber was vielleicht noch wichtiger ist, ist die Art und Weise, wie die sozialen Medien genutzt werden. Was schädlich zu sein scheint, ist unstrukturiertes Surfen.
Auch viel Zeit damit zu verbringen, Selfies zu posten und/oder das eigene Image auf andere Weise zu pflegen, indem man an den Bildern herumdoktert oder sich mit Gleichaltrigen vergleicht, scheint nachteilig für die Psyche zu sein.
Es gibt natürlich auch positive Erfahrungen mit Sozialen Medien. Sie können für junge Menschen eine großartige Möglichkeit sein, sich mit Freunden und gleichgesinnten Gemeinschaften über Hobbys oder Interessen zu verbinden.
Wann werden Essstörungen normalerweise erkannt und behandelt?
Leider werden viele Menschen mit Essstörungen überhaupt nicht behandelt. Schätzungen zufolge ist dies bei bis zu 80 % der Betroffenen der Fall. Viele andere werden erst nach langen Verzögerungen therapiert. Bei denjenigen, die erst spät erkannt und behandelt werden, handelt es sich häufig um junge Männer oder Angehörige von Minderheiten, etwa von ethnischen, sexuellen oder geschlechtsspezifischen Minderheiten, sowie um Menschen mit einer höheren Körpergröße.
Aus einer systematischen Übersichtsarbeit wissen wir auch, dass Menschen mit Anorexia nervosa international im Durchschnitt etwa 30 Monate unbehandelt bleiben, bei Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störungen beträgt die Zeit bis zum Behandlungsbeginn bis zu 67 Monate. Diese Übersicht umfasst Daten aus Deutschland, dem Vereinigten Königreich und anderen westlichen Ländern mit einem einigermaßen guten Gesundheitssystem.
Bei jüngeren Jugendlichen, insbesondere bei denen mit Anorexia nervosa, sind es oft die Eltern, die sich Sorgen machen und den jungen Menschen zur Behandlung bringen. Aber bei jungen Erwachsenen (18 bis 25 Jahre), die nicht mehr zu Hause wohnen, ist es oft sehr schwierig, den ersten Schritt zu tun und um Hilfe zu bitten.
Das hat zum Teil damit zu tun, dass die Betroffenen nicht erkennen, dass sie ein behandlungsbedürftiges Problem haben, oder dass sie befürchten, dass es ihnen nicht gut genug geht oder dass sie abgewiesen werden könnten. Es muss also viel mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden.
Wann sollte eine Essstörung behandelt werden?
In der Fachwelt herrscht allgemeiner Konsens darüber, dass eine Essstörung umso besser behandelt werden kann, je früher sie erkannt wird. Das liegt daran, dass viele Aspekte einer Essstörung, zum Beispiel das Verhalten bei der Lebensmittelauswahl, aber auch beim Abnehmen, mit der Zeit sehr regelbasiert und gewohnheitsmäßig werden und sich dann viel schwerer ändern lassen.
Im Vereinigten Königreich haben wir ein Frühinterventionsmodell namens FREED entwickelt, das auf ähnlichen Frühinterventionsmodellen für junge Menschen mit Psychosen aufbaut. FREED zielt darauf ab, eine rasche, gut koordinierte, entwicklungsorientierte und evidenzbasierte Behandlung und Betreuung auf jugendfreundliche Weise anzubieten.
Die Forschung hat gezeigt, dass FREED die Zeit zwischen dem Ausbruch der Krankheit und der ersten evidenzbasierten Behandlung verkürzt, die Aufnahme der Behandlung verbessert und die klinischen Outcomes drastisch erhöht.
So haben beispielsweise 60 Prozent der jungen Menschen mit Anorexia nervosa, die FREED erhalten, nach 12 Monaten ihr Gewicht vollständig zurückerhalten, während dies nur bei knapp 20 % der Vergleichsgruppe (in Bezug auf Diagnose und Krankheitsdauer) der Fall war, die eine Standardbehandlung erhielten.
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