Fluchtursachen: Europa nicht erstes Ziel

Genf/Köln – Über die Hälfte der nach Europa geflohenen afrikanischen Jugendlichen gab nach der Ankunft in Italien an, dass Europa ursprünglich nicht ihr Ziel gewesen ist. Die katastrophalen Bedingungen in Libyen hätten sie häufig dazu gebracht, die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer zu wagen, wie das Kinderhilfswerk Unicef in einer neuen Studie über die Fluchtursachen und Erfahrungen von geflüchteten Jugendlichen berichtet.
Für die Studie hat die Organisation „Reach“ im Auftrag von Unicef 850 Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren befragt. 75 Prozent der in Italien interviewten Jugendlichen haben nach eigener Aussage die Entscheidung, ihr Heimatland zu verlassen, alleine getroffen. Sie sind ohne Absprache oder das Wissen ihrer Familien aufgebrochen.
Als Gründe für ihre Entscheidung nannten sie fehlende Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten in ihrer Heimat, aber auch familiäre Probleme oder häusliche Gewalt. Weniger als die Hälfte hatte ursprünglich vor, nach Europa zu gehen. Vielmehr suchten die Jugendlichen in der Regel zunächst in den Nachbarländern Schutz und neue Chancen und trafen die Entscheidung für die Weiterreise erst nach und nach.
Erfahrungen in Libyen traumatisierend
Besonders traumatisierend ist nach den Berichten der Jugendlichen die Situation in Libyen. Die Befragten gaben einstimmig an, dies sei „der schlimmste Teil ihrer Landroute“ gewesen. Fast die Hälfte (47 Prozent) von ihnen berichteten, dass sie dort gekidnappt und festgehalten wurden, um Lösegeld zu erpressen. Rund jeder Vierte (23 Prozent) sagte, dass er willkürlich verhaftet und ohne Angabe von Gründen eingesperrt worden sei.
„Diejenigen, die Europa als Ziel hatten, wurden von der Aussicht auf weiterführende Bildung, Respekt für ihre Rechte und den Wunsch, im Leben weiterzukommen, angetrieben. Allerdings sieht die Realität, wenn sie in Europa ankommen, leider ganz anders aus und ihre Erwartungen werden enttäuscht“, sagte Afshan Khan, Unicef-Regionaldirektorin für Europa und Zentralasien. Lange Asylverfahren und Unwissen über ihre Rechte führten vielmehr dazu, dass viele Jugendliche Monate oder Jahre für Bildung verlören. Außerdem seien die Jugendlichen großen Gefahren durch Missbrauch und Ausbeutung ausgesetzt.
Weiter viele Mittelmeerflüchtlinge
Erst gestern waren erneut 278 afrikanische Bootsflüchtlinge vor der libyschen Küste gerettet worden. Wie die libysche Marine mitteilte, wurden 150 afrikanische Flüchtlinge etwa 70 Kilometer von der Hauptstadt Tripolis entfernt aus dem Mittelmeer geborgen, 128 Menschen rettete die Küstenwache weiter westlich der Stadt. Unter ihnen seien auch Frauen und Kinder gewesen.
Ein Zeuge berichtete, Schlepper hätten den Motor des einen Schlauchbootes absichtlich auf offener See gegen einen kaputten Motor ausgetauscht und seien dann geflohen. Die 150 Insassen jenes Bootes wurden nach Behördenangaben in Tripolis mit Wasser und Essen versorgt sowie medizinisch betreut. Danach wurden sie in Abschiebehaft gebracht.
Die Schlepper setzen Flüchtlinge normalerweise an der libyschen Küste in Boote, die dann mit Motorbooten in Richtung internationaler Gewässer geschleppt werden. Dort werden die Menschen dann ihrem Schicksal überlassen; die Schlepper spekulieren darauf, dass sie von Schiffen in der Nähe gerettet und nach Europa gebracht werden. Vor allem Flüchtlinge aus dem südlichen Teil Afrikas treten von Libyen aus die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer ins rund 300 Kilometer entfernte Italien an. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) starben dabei in diesem Jahr bereits rund 2.360 Menschen.
Italien beriet heute unterdessen mit privaten Seenotrettern über einen Verhaltenskodex, der klare Regeln für Rettungseinsätze im Mittelmeer festlegen soll. Der Entwurf des Regelkatalogs, der Gegenstand der Gespräche ist und zwölf Punkte umfasst, hatte bereits im Vorfeld für Kritik gesorgt. Hilfsorganisationen erklärten, dass sich ihre Rettungseinsätze ohnehin in einem von italienischen Behörden und internationalem Recht vorgegebenen Rahmen bewegten. Die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) stehen im Mittelpunkt der Debatte um Rettungseinsätze im Mittelmeer, seit ein sizilianischer Staatsanwalt Ende April einigen NGOs vorwarf, von Schleppern finanziert zu sein. Belege dafür gibt es nicht.
Italien hatte vor einigen Wochen den Vorschlag gemacht, den Verhaltenskodex („Code of Conduct“) zu verfassen, und Rückendeckung von den EU-Partnern bekommen. Der Code of Conduct soll die Hilfsorganisationen unter anderem dazu verpflichten, nur im äußersten Notfall in libysche Hoheitsgewässer einzudringen – so wie es auch das Internationale Seerecht vorschreibt. Den Helfern wird untersagt, Ortungsgeräte abzustellen. Außerdem sollen sie Behörden, auch der Kriminalpolizei, Zugang zum Schiff gewähren und ihre Finanzierung offenlegen.
Auch nimmt der Verhaltenskodex eine Anschuldigung auf, die die italienischen Staatsanwälte äußerten und von den NGOs stets zurückgewiesen wird: mit Lichtsignalen Schmuggler an der libyschen Küste zu ermuntern, Boote mit Migranten aufs Meer zu schicken. Auch dies soll künftig explizit verboten sein. Aus Sicht einiger Hilfsorganisationen ist der Verhaltenskodex eine weitere Kriminalisierung ihres Engagements im Mittelmeer. Wie sich die Organisationen im Einzelnen zum Verhaltenskodex positionieren werden, ist unklar. Viele prüften den Code of Conduct zuletzt noch rechtlich.
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