Immer mehr Länder verhängen Coronalockdown

London – Angesichts der dramatisch steigenden Infektionszahlen mit SARS-CoV-2 fahren immer mehr europäische Staaten das öffentliche Leben erneut herunter. Darunter sind England, Österreich und viele andere.
Der britische Premierminister Boris Johnson verkündete vorgestern einen zweiten Lockdown in England, der vier Wochen dauern soll. „Jetzt ist die Zeit zum Handeln, weil es keine Alternative gibt“, sagte der britische Premier Johnson. Das Coronavirus verbreite sich „noch schneller als im schlimmsten Szenario der wissenschaftlichen Berater“.
Unmittelbar vor der Bekanntgabe des erneuten Lockdowns hatte die Zahl der Infektionsfälle in Großbritannien die Schwelle von einer Million überschritten, nachdem fast 22.000 Neuinfektionen binnen 24 Stunden gemeldet worden waren.
Der Lockdown in England beginnt am Donnerstag und ist befristet bis zum 2. Dezember. Die Schulen sollen geöffnet bleiben. Geschäfte der Grundversorgung dürfen öffnen, die Bevölkerung soll abgesehen vom Gang zur Arbeit, zur Schule oder zum Arzt zu Hause bleiben.
Johnsons Staatssekretär Michael Gove warnte jedoch bereits gestern, dass der Lockdown auch länger als vier Wochen dauern könnte. Gelinge es nicht, die Ansteckungsraten zu senken, werde die Regierung die strengen Maßnahmen aufrechterhalten, sagte er dem Sender Sky News.
Großbritannien hat mit mehr als 46.000 Todesfällen die höchste Zahl an Coronatoten in Europa zu beklagen. Wie aus Dokumenten der wissenschaftlichen Beratergruppe der Regierung für Notfälle (Sage) hervorgeht, könnte die Zahl der Infizierten und Krankenhauseinweisungen demnächst die Berechnungen für den schlimmsten Fall übertreffen. Das im Juli ausgearbeitete Worst-Case-Szenario ging von weiteren 85.000 Todesfällen in einer zweiten Infektionswelle im Winter aus.
Auch in Griechenland gilt ab morgen ein Teil-Lockdown mit einer Schließung von Restaurants, Cafés, Museen und Kinos. Tschechien verlängerte den coronabedingten Ausnahmezustand bis zum 20. November. In Spanien wächst derweil der Unmut über die Coronarestriktionen. Dort lieferten sich Demonstranten am Wochenende gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei, es gab Verletzte und Festnahmen. In Italien hatte es bereits vergangene Woche ähnliche Proteste gegeben.
Einschränkungen in Italien und Portugal
In Italien stehen zum Wochenstart neue Verschärfungen an. Angesichts der rasant steigenden Infektionskurven will Ministerpräsident Giuseppe Conte heute in beiden Kammern des Parlaments in Rom Erklärungen abgeben und anschließend per Dekret neue Beschränkungen erlassen, berichteten mehrere Medien gestern.
Vorgesehen seien Maßgaben für regionale Lockdowns in Virus-Hotspots wie in der Lombardei. Auch Metropolen mit hohen Corona-Zahlen wie Neapel oder Genua könnten zu roten Zonen mit Sperren werden. Diskutiert werde, die Reisen zwischen Regionen einzuschränken und den Schulunterricht verstärkt ins Internet zu verlegen.
„Wir haben 48 Stunden, um zu versuchen, die Verschärfung auf den Weg zu bringen“, sagte Gesundheitsminister Roberto Speranza der Zeitung Corriere della Sera. „Es sind zu viele Menschen unterwegs.“ Man müsse die Italiener davon überzeugen, so viel wie möglich zu Hause zu bleiben. Noch stünden die Intensivstationen nicht vor dem Kollaps, aber der Druck steige. Der Regionalpräsident der Lombardei, Attilio Fontana, forderte national einheitlich Vorgaben.
Die Mitte-Links-Regierung hatte im Laufe des Oktobers fast im Wochenrhythmus neue Regeln und Notdekrete erlassen. Bisher wurde trotzdem kein Abschwellen der zweiten Infektionswelle registriert. Im Land gilt seit mehr als drei Wochen eine Maskenpflicht.
Theater und Kinos wurden per Erlass vor rund einer Woche geschlossen. Bars und Restaurants dürfen nur noch bis 18 Uhr Gäste bedienen. Für den Unterricht an Gymnasien wurde ein teilweiser Onlineunterricht angeordnet. Conte hatte wiederholt gesagt, Rom wolle den nationalen Stillstand auch aus ökonomischen Gründen verhindern.
Das noch im Frühjahr wegen seiner niedrigen Coronazahlen gepriesene Portugal hat angesichts immer schneller steigender Infektionszahlen ebnfalls einen Teil-Lockdown angekündigt. 70 Prozent der rund 10,3 Millionen Bürger des Landes hätten ab übermorgen die „Bürgerpflicht“, möglichst Zuhause zu bleiben, sagte Regierungschef António Costa nach einer achtstündigen Krisensitzung am vergangenen Samstagabend in Lissabon. Die Schulen sollten jedoch geöffnet bleiben.
Es handelt sich nicht um eine strikte Ausgangssperre, da die Menschen ihre Häuser verlassen dürften, um zur Arbeit, zum Arzt oder zu einem pflegebedürftigen Angehörigen zu gehen, wie Costa sagte. Auch sollen kurze Spaziergänge sowie der Besuch von Restaurants weiter erlaubt sein, die jedoch weniger Menschen bedienen dürften und früher schließen müssten. Wo immer möglich, solle zur Heimarbeit gewechselt werden. Wochenmärkte unter freiem Himmel und andere Marktveranstaltungen seien künftig verboten.
Die neuen Einschränkungen sollen in 121 Kommunen landesweit einschließlich Porto und der Hauptstadt Lissabon gelten, in denen die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen 14 Tagen die Zahl von 240 überstieg. Costa betonte, die Maßnahmen seien unumgänglich, um einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu verhindern. Andererseits müsse aber auch die Wirtschaft am Laufen gehalten werden.
Aufgrund der dramatischen Lage in Belgien sollen von kommender Woche an verschärfte Einschränkungen gelten. So müssen die meisten Geschäfte wieder schließen. Die Leute dürfen noch weniger Kontakte haben als bisher. Zuhause darf man nur noch einen einzigen Besucher pro Woche empfangen; bei Alleinstehenden sind es zwei. Nächtliche Ausgangssperren gelten ohnehin seit längeren. Auch Kneipen, Restaurants und Cafés sind bereits geschlossen.
Erstmals waren in Belgien kürzlich mehr als 20.000 neue Infektionen innerhalb eines einzigen Tages registriert worden. Innerhalb der EU gehört Belgien mit seinen gut elf Millionen Einwohnern derzeit zu den Ländern mit den meisten registrierten Infektionen im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße. Im Vergleich zu Deutschland liegen die Werte um ein Vielfaches höher.
Ohne eine Trendwende bei den Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 steuert Österreich nach den Worten des Gesundheitsministers Rudolf Anschober auf eine baldige Überlastung des Gesundheitssystems zu. Mit einer kritischen Lage wäre dann in der zweiten Novemberhälfte zu rechnen, sagte Anschober heute in Wien.
Binnen einer Woche sei die Anzahl der mit COVID-19-Patienten belegten Intensivbetten um 78 Prozent gestiegen. Daher sei es notwendig, dass sich die Bevölkerung strikt an die neuen Maßnahmen im teilweisen Lockdown halte. Die Regierung rechne in dieser Woche mit stark steigenden Zahlen, sagte Anschober. Der Effekt des teilweisen Lockdowns werde sich erst in rund zwei Wochen zeigen.
Österreich schränkt wegen einer drohenden Überlastung der Intensivmedizin in der Krise das öffentliche Leben stark ein. Die Gastronomie und fast das gesamte Kultur- und Freizeitangebot schließen, landesweit ist das Verlassen der Wohnung zwischen 20 und 6 Uhr nur zu bestimmten Zwecken erlaubt – allerdings auch zur Erholung im Freien.
„Ab Dienstag, dem 3. November 0 Uhr, bis Ende November wird es zu einem zweiten Lockdown in Österreich kommen“, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in Wien. Anders als im ersten Lockdown im Frühjahr, der strengere Ausgangsbeschränkungen rund um die Uhr vorsah, bleiben dieses Mal der Handel und auch die meisten Schulen offen – „vorerst“, wie Kurz betonte. Schüler ab der Oberstufe und Studierende lernen zuhause.
Veranstaltungen des Profisports dürfen als einzige stattfinden, aber nur ohne Zuschauer. Kontaktsport in der Freizeit ist verboten. Besuche in Krankenhäusern und Pflegeheimen werden begrenzt.
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