Ausland

„In Moria herrscht eine extrem gefährliche Stimmung“

  • Freitag, 11. September 2020

Lesbos – Das Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos war 2015 ursprünglich für knapp 3.000 Menschen ausgelegt. Zuletzt lebten dort mehr als 12.000. Mehrere Brände haben das Lager nun zerstört. Seit vorgestern haben tausende Flücht­linge kein Dach mehr über dem Kopf, vielfach herrscht Chaos, die Angst vor einem unkontrollierten Ausbruch von COVID-19 wächst.

Das Deutsche Ärzteblatt sprach mit Marie von Manteuffel, Expertin für Flüchtlingspolitik bei Ärzte ohne Grenzen, über die aktuelle Situation in dem Flüchtlingslager, wie ihre Kolleginnen und Kollegen versuchen, vor Ort zu helfen und welche Steine ihnen dabei in den Weg gelegt werden.

Marie von Manteuffel, Humanitarian Advocacy Officer bei Ärzte ohne Grenzen/Ärzte ohne Grenzen e.V./Médecins Sans Frontières
Marie von Manteuffel, Humanitarian Advocacy Officer bei Ärzte ohne Grenzen /Ärzte ohne Grenzen e.V., Médecins Sans Frontières

5 Fragen an Marie von Manteuffel, Expertin für Flüchtlingspolitik (Humanitarian Advocacy Officer) bei Ärzte ohne Grenzen

DÄ: Ärzte ohne Grenzen setzt sich schon seit längerem für die Verbesserung der Situation im Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos ein. Wie war die Lage vor dem Brand?
Marie von Manteuffel: Regulär sind wir mit etwa 120 Mitarbeitern vor Ort, mit 360 insgesamt in Griechen­land. Wir betreiben dort eine Kinderklinik vor den Toren Morias, die glücklicherweise nicht abgebrannt ist. Das ist die positive Nachricht.

Wir hatten in den vergangenen Monaten noch eine weitere Klink mit 60 Betten aufgebaut, die als COVID-Isolationszentrum dienen sollte und hatten dort auch schon erste Patienten aufgenommen. Doch wir mussten das Zentrum wieder abbauen. Wir haben von der lokalen Baubehörde einen Bußgeldbescheid bekommen, wir hätten uns nicht an die baurechtlichen Vorgaben gehalten.

Das birgt schon eine gewisse Ironie, denn das gesamte Camp Moria ist irregulär, da entspricht nichts den Vorgaben. Das Isolationszentrum hatten wir als Teil der COVID-Response nach Vorgaben aus Athen gebaut und waren auch die ganze Zeit in enger Absprache mit den lokalen Behörden.

Zu Ende Juli sollte das Zentrum weg sein, Mitte August wurde dann ein niederländisches Corona-Response-Zentrum gebaut und gemeinsam mit dem griechischen Präsidenten eröffnet. In Betrieb genommen wurde es allerding nie. Wir haben angeboten, dort zu arbeiten, das wurde aber nicht zugelassen. Nun ist das Zentrum abgebrannt.

DÄ: Wie waren die letzten 48 Stunden?
von Manteuffel: Wir haben in den Bränden versucht, unsere Mitarbeiterinnen und Mitar­beiter zu evakuieren, dafür gesorgt, dass die Flammen nicht auf unsere Kinderklinik übergreifen, versucht, einen Überblick zu bekommen, ob es Schwerverletzte gibt, die eine Notbehandlung brauchen.

Wir waren am Mittwoch mit einer Notbesetzung in der Kinderklinik vor Ort und haben Menschen mit Brandwunden und anderen durch den Brand verursachten Verletzungen behandelt. Glücklicherweise haben wir den ganzen Tag keine Schwerverletzten gesehen.

In der Nacht zu Donnerstag hat es wieder gebrannt. Wir waren vor Ort, um die Situation zu beobachten. Als wir am Donnerstag wieder in unsere Kinderklinik wollten, um weitere Notfallbehandlungen anzubieten, wurden wir von einigen griechischen Staatsange­hörigen gestoppt.

Es ist davon auszugehen, dass es sich dabei um einen Teil der rechtsnationalen Bürger­wehren handelt. Diesen Gruppen sind wir schon mehrfach begegnet. Dabei wurden unsere Mitarbeiter beleidigt und mit Steinen beworfen.

Bislang sind nur für die wenigsten Geflüchteten Unterkünfte geschaffen worden. Es wurden Zelte geschickt, die aber bei Weitem nicht für alle reichen. Es gab erste Flüge, um unbegleitete Minderjährige auszufliegen. Nun wird über Schiffe debattiert. Aber auch das wird nicht ausreichen.

DÄ: Nach bisherigen Kenntnissen sind 35 Bewohner des Lagers positiv auf Corona getestet worden. In den Folgen des Großbrandes können sie nicht mehr rückverfolgt werden, nur acht sind von der Polizei wieder aufgegriffen worden. Als wie hoch schätzen Sie das Risiko eines unkontrollierbaren Ausbruchs von Corona unter den Bewohnern von Moria ein?
von Manteuffel: Das Risiko eines unkontrollierbaren Ausbruchs ist recht hoch. In dem Lager herrscht eine extrem gefährliche Stimmung. Die Frustration hat ein Maß angenom­men, das schwer zu beherrschen ist. Es gibt widerstreitende Interessen, denn sowohl die Angst vor einer unkontrollierten Ausbreitung von COVID-19 bei Campbewohnern als auch bei den griechischen Bürgern vor Ort ist groß.

Diese Situation hat sich durch den Brand verschärft. Es wurde versucht, die positiv getesteten Bewohner zu isolieren, das gesamte Camp wurde abgesperrt, so dass alle knapp 13.000 Geflüchteten keinerlei Zugang zu Supermärkten, Apotheken oder ähnlichen Orten hatten. Und das, während außerhalb des Lagers das Leben wieder recht normal weiterging. Die Campbewohner haben das nicht als Schutz für sich interpretiert, sondern so, dass andere vor ihnen geschützt werden sollen.

DÄ: Wie steht es nun um andere Erkrankungen abseits von COVID-19?
von Manteuffel: Häufigste Krankheiten, die wir behandelt haben, waren typische Krankheiten die durch die Lebensumstände in dem Camp entstehen. Vor allem Atemwegs-, Haut-, und Durchfallerkrankungen. Im Winter gab es immer mehr Rattenbisse.

Bei Frauen gibt es viele Harnwegserkrankungen. Sie trauen sich nachts nicht, die Toiletten aufzusuchen. Sie fürchten sich vor sexuellen Übergriffen, urinieren zum Beispiel in Flaschen. Das führt auch bei Schwangeren immer wieder zu Komplikationen.

In der Kinderklinik sehen wir eine erhebliche Zahl von psychosozialen Erkrankungen. Schon im vergangenen Jahr haben wir darauf hingewiesen, dass die Zahl der Kinder mit Suizidgedanken oder solcher, die sogar Suizidversuche unternommen haben, extrem gestiegen ist. Viele haben aufgehört zu essen, zu spielen oder zu sprechen. Das betrifft nicht nur unbegleitete Kinder, sondern auch solche, die die Hoffnungslosigkeit der eigenen Eltern spiegeln.

DÄ: Welche Konsequenzen müssen aus dem Großbrand nun für die Versorgung der Menschen in Moria, aber auch politisch aus Ihrer Sicht erfolgen?
von Manteuffel: Die Hoffnung ist nicht sehr groß, dass sich nun etwas maßgeblich ändern wird. Andererseit muss man sich fragen: Wann, wenn nicht jetzt? Denn das Camp Moria existiert nicht mehr, es ist niedergebrannt. Seit vier Jahren wird dieses Thema auf EU-Ebene diskutiert und vertragt.

Es wird behauptet, dass immer mehr Menschen kommen und man nicht weiß, wohin mit ihnen. Das ist aber schon seit Monaten nicht mehr der Fall, es kommen kaum noch Menschen hier an. Politisch tut man trotzdem immer noch so, als sei man im Krisen­modus. Das wird als Argument dafür genutzt, die Strukturen nicht zu verändern. So blockiert man sich schlussendlich selbst.

Deutschland hat jetzt im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft die Möglichkeit, etwas zu verändern und eine neue, strukturelle Herangehensweise zu finden, mit den Menschen auf den Inseln, aber auch mit denen auf dem griechischen Festland umzugehen.

alir

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