Medizin

COVID-19: Hoher Blutdruck kein Sterberisiko in Studie an 17 Millionen Patienten

  • Donnerstag, 9. Juli 2020
/Photographee.eu, stock.adobe.com
/Photographee.eu, stock.adobe.com

Oxford – Mehr als 90 % aller Menschen, die in England an COVID-19 gestorben sind, waren älter als 60 Jahre. Ein höheres Alter war in einer Analyse von mehr als 17 Millionen Personen der mit Abstand wichtigste Risikofaktor.

Die Publikation in Nature (2020; DOI: 10.1038/s41586-020-2521-4) bestätigt weitere bekannte Risiken wie ein männliches Geschlecht und umstrittene Faktoren wie die ethnische Herkunft. Ein erhöhter Blutdruck war dagegen nicht mit einem erhöhten Sterberisiko assoziiert. Für das Tabakrauchen wurde sogar eine Risikominderung gefunden.

Für Engländer, die sich beim kostenlosen Gesundheitsdienst (NHS) registrieren lassen, wird mittlerweile eine elektronische Krankenakte angelegt. Dies ermöglicht „Big-Data“-Analysen, die auf der Platform „OpenSAFELY“ an pseudonymisierten Daten erfolgen.

Ein Team um Ben Goldacre von der Universität Oxford setzte die Daten von 17.278.392 NHS-Patienten mit den 10.926 Todesfällen in Beziehung, zu denen es bis zum 6. Mai gekommen war. Eine Stärke der Studie ist nicht nur die Fülle der Daten, sondern auch die Berücksichtigung aller Patientengruppen. Frühere Untersuchungen waren zumeist an Klinikpatienten durchgeführt worden. Todesfälle in Altersheimen wurden dort beispiels­weise nicht berücksichtigt.

Die Auswertung bestätigt, dass ein höheres Alter der wichtigste Risikofaktor für einen tödlichen Verlauf ist. Goldacre ermittelt für über 80-Jährige im Vergleich zu 50- bis 60-Jährigen eine Hazard Ratio (HR) von 20,61 (95-%-Konfidenzintervall 18,72-22,70), also einen Anstieg um den Faktor 20. Für Erwachsene unter 40 Jahren betrug sie 0,06, also ein Rückgang um 94 %. Nach diesen Daten müssen sich Menschen unter 50 Jahren deutlich weniger Sorgen machen, an COVID-19 zu sterben.

Das Alter ist allerdings nicht der einzige Risikofaktor. Männer sterben häufiger als Frauen an COVID-19 (HR 1,59), eine Adipositas erhöht ebenfalls das Sterberisiko mit einer HR von 1,05 für einen BMI von 30-34,9. Die HR steigt bei einem BMI von 35 bis 39,9 auf 1,40 und bei einem BMI ab 40 auf 1,92.

Zu den weiteren Risikofaktoren gehören Atemwegserkrankungen außer Asthma (HR 1,63), chronische Herzerkrankungen (HR 1,17), ein Diabetes (HR 1,31 bis 1,90), aktuelle Krebserkrankungen (HR 1,72) oder Leukämie/Lymphome (HR 2,82), eine eingeschränkte Nierenfunktion (HR 1,33 bis 2,52), Lebererkrankungen (HR 1,75), Schlaganfall/Demenz (HR 2,16), andere neurologische Erkrankungen (HR 2,58), Organtransplantationen (HR 3,55), Asplenie (HR 1,34), rheumatische Erkrankungen (HR 1,19) und Immunschwächen (HR 1,70).

Das erhöhte Sterberisiko durch Alter und chronische Erkrankungen lässt sich plausibel erklären. Anders ist dies bei der ethnischen Herkunft. Südasiaten (HR 1,44), Schwarze (HR 1,48) und andere Menschen ohne britische Wurzeln (HR 1,33) sterben in England häufiger an COVID-19 als Einheimische. Dies muss nicht auf eine genetische Anfälligkeit zurückzuführen sein.

Menschen mit Migrationshintergrund gehören in vielen Ländern, so auch in England, zu den sozial marginalisierten Gruppen mit geringerer Bildung und Einkommen. Doch in den von Goldacre ermittelten Hazard Ratios sind diese Faktoren, soweit möglich, bereits berücksichtigt, darunter die soziale Deprivation (HR 1,80 für die am meisten Benach­teiligten).

Es muss deshalb offen bleiben, ob andere schwer zu erfassende Faktoren wie etwa die häufigere Beschäftigung in Bereichen mit hohem Publikumsverkehr die Unterschiede erklären oder ob es doch genetische Faktoren gibt.

In 2 Punkten zeigten sich die Grenzen einer retrospektiven Datenanalyse. Zur Über­raschung der Forscher hatten aktive Raucher und ältere Menschen mit erhöhtem Blutdruck ein vermindertes Risiko, an COVID-19 zu sterben. Bei Rauchen konnte dies in einer Post-Hoc-Analyse vor allem auf die Berücksichtigung von chronischen Atemwegs­erkrankungen zurückgeführt werden.

In einer Analyse, die nur die demografischen Faktoren (Alter, Geschlecht, Deprivation und Rauchen) berücksichtigt, ermittelt Goldacre schließlich eine Hazard Ratio von 1,07. Dennoch scheint Rauchen, obwohl es zweifellos die Lungen schädigt, kein wichtiger Risikofaktor für den Tod an COVID-19 zu sein.

Beim Einfluss der Hypertonie gelang dies nicht. Nach den von Goldacre vorgestellten Daten haben Hypertoniker nur in den jüngeren Altersgruppen ein erhöhtes COVID-19-Sterberisiko (HR 3,11 für 18 bis 40 Jahre, HR 2,75 für 40 bis 50 Jahre und HR 2,07 für 50 bis 60 Jahre). Im Alter von 60 bis 70 Jahren sinkt die HR auf 1,32 und im Alter von 70 bis 80 (HR 0,94) und im Alter über 80 (HR 0,73) hätten Hypertoniker nach den Berechnung­en von Goldacre sogar ein vermindertes Risiko, an COVID-19 zu sterben.

Dieses Ergebnis steht im völligen Gegensatz zu früheren Analysen, in denen eine Hypertonie zu den wichtigsten Risikofaktoren gehörte. Ob dies damit zu erklären ist, dass frühere Untersuchungen nur an hospitalisierten Patienten durchgeführt wurden, bleibt offen, da die aktuelle Untersuchung nicht zwischen diesen beiden Gruppen unterscheidet.

rme

Diskutieren Sie mit:

Diskutieren Sie mit

Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.

Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Artikel.

Newsletter-Anmeldung

Informieren Sie sich täglich (montags bis freitags) per E-Mail über das aktuelle Geschehen aus der Gesundheitspolitik und der Medizin. Bestellen Sie den kostenfreien Newsletter des Deutschen Ärzteblattes.

Immer auf dem Laufenden sein, ohne Informationen hinterherzurennen: Newsletter Tagesaktuelle Nachrichten

Zur Anmeldung