Medizin

COVID-19: Journals lassen „Surgis­phere“-Studien überprüfen

  • Mittwoch, 3. Juni 2020
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Boston und London – Ein offener Brief, in dem 146 Wissenschaftler die statistische Ana­ly­se und Datenintegrität einer Studie der Firma „Surgisphere“ zum Einsatz von Hydroxy­ch­loroquin/Chloroquin bei COVID-19 infrage gestellt haben, hat die Fachzeitschrift Lancet zu einer „Expression of concern“ bewogen.

Das New England Journal of Medicine hat sich den Bedenken angeschlossen und eine wei­tere Studie von „Surgisphere“ mit dem gleichen Hinweis versehen. Die betroffenen Forscher haben die Anschuldigungen zurückgewiesen, die derzeit Gegenstand einer Über­prüfung sind.

Die von dem US-Chirurgen Sapan Desai 2008 gegründete Firma „Surgisphere“ mit Sitz in Chicago verfügt nach eigener Aussage über Daten zu 240 Millionen Patienten, die aus mehr als 1.200 Institutionen in 46 Ländern stammen sollen. Es handele sich dabei um Einträge in elektronischen Krankenakten, die „Surgisphere“ in anonymisierter Form für Analysen zur Verfügung gestellt würden, heißt es in einer Mitteilung von „Surgisphere“.

Die Firma lasse die Daten mit einer Software der Firma QuartzClinical auf der Basis des maschinellen Lernens auswerten. Die Ergebnisse dieser Big-Data-Analysen seien in den vergangenen Jahren in verschiedenen Fachzeitschriften veröffentlicht worden, darunter in „NEJM, JAMA und dem BMJ“, teilt die Firma in einer Entgegnung auf die Anschuldigungen einer Reihe von Wissenschaftlern mit.

Diese hatten in einem offenen Brief an Richard Horton, dem Chef-Editor des Lancet, Zwei­fel an einer Studie geäußert, die am 22. Mai in der Fachzeitschrift veröffentlicht wor­den war.

Desai war dort zusammen mit Mandeep Mehra vom Brigham Heart and Vascular Center in Boston, Frank Ruschitzka vom Universitäts-Spital Zürich und Amit Patel von der Universi­tät von Utah in Salt Lake City (drei namhaften Kardiologen/Herzchirurgen) zu dem Ergeb­nis gekommen, dass Hydroxychloroquin oder Chloroquin bei alleiniger oder kombinierter Anwendung mit einem Makrolid die Überlebenschancen von Patienten mit COVID-19 eher verschlechtert als verbessert.

Die Studie hat mehrere Organisationen/Institutionen, neben der Weltgesundheitsorga­ni­sation auch die Universität Tübingen, veranlasst, randomisierte Studien zum Nutzen von Hydroxychloroquin/Chloroquin vorübergehend zu stoppen. Ende letzter Woche haben dann 146 Forscher ihre Bedenken an der Lancet-Studie geäußert. James Watson von der Mahidol Oxford Tropical Medicine Research Unit in Thailand und Kollegen sind bei der Lektüre der Studie auf zahlreiche Unklarheiten gestoßen.

Sie fragten sich, wie es „Surgisphere“ in so kurzer Zeit möglich gewesen sei, die Daten von mehr als 96.000 Patienten zusammenzutragen. Darunter waren mehr als 63.000 Pa­tienten aus Nordamerika, die dort bis zum 14. April in 559 Krankenhäusern behandelt worden waren. Dies erschien den Autoren des offenen Briefs unglaubwürdig.

Sie wenden ein, dass es bis zu diesem Datum in den gesamten USA insgesamt nur 580.000 Erkrankungen gegeben habe, die Hälfte davon in den US-Staaten New York und New Jersey. Dort waren sich die behandelnden Ärzte sicher nicht bewusst, dass die Daten ihrer Patienten an eine Firma weitergegeben wurden, von deren Existenz sie noch nie ge­hört hatten.

Die Autoren des offenen Briefes listeten insgesamt zehn Punkte auf, zu denen ihnen die Darstellungen in der Studie unklar oder zweifelhaft erschienen. Sie vermissten unter an­derem Einzelheiten zu den Berechnungen der Software und verlangten Zugang zu den Rohdaten.

Der offene Brief hat in den letzten Tagen eine starke Aufmerksamkeit in den Medien er­zeugt, die gleichzeitig darüber berichteten, dass der US-Präsident (nach eigener Aussage) vorbeugend Hydroxychloroquin einnehme und das Mittel zum Masseneinsatz in Brasilien bereitgestellt werden soll.

Da „Surgisphere“ diese Daten nicht sofort bereitstellen wollte oder konnte (maschinelles Lernen liefert Ergebnisse, aber keine Algorithmen) hat sich der Lancet zu einer „Express­ion of concern“ entschlossen. Die Editoren teilen dort mit, dass sie eine unabhängige Prüfung zur Herkunft und Gültigkeit der Daten bei unabhängigen Experten in Auftrag gegeben hätten.

Die Ergebnisse würden in Kürze erwartet. In der Zwischenzeit würden die Leser auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass ernsthafte wissenschaftliche Fragen vorliegen. Der Hinweis werde aktualisiert, sobald weitere Informationen vorlägen.

Das New England Journal of Medicine schloss sich den Bedenken an. Dort war kürzlich eine Studie über die Auswirkungen einer bereits bestehenden Behandlung mit ACE-Hem­mern oder Sartanen auf die Prognose von COVID-19-Patienten veröffentlicht worden.

Mehra und Mitarbeiter kamen zu dem Ergebnis, dass die Medikamente nicht für die er­höhte Sterblichkeit von Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen in der Vorgeschichte verantwortlich seien.

Auch das New England Journal of Medicine hat die Autoren gebeten, den Nachweis zu erbringen, dass ihre Daten zuverlässig sind, „in der Zwischenzeit und zum Nutzen unserer Leser“ werde eine „Expression of concern“ veröffentlicht.

Eine „Expression of concern“ ist eine Verdachtsmeldung und kein Warnhinweis oder gar der Nachweis, dass die Forscher bei ihren Arbeiten unsauber gearbeitet oder sogar ge­fälscht haben. Auch in Journals gilt die Unschuldsvermutung. Es bleibt abzuwarten, was die unabhängigen Prüfungen in den nächsten Tagen ergeben werden.

rme/afp

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