Medizin

Fachleute sehen Lenacapavir als Gamechanger im Kampf gegen Aids

  • Mittwoch, 24. Juli 2024
/Basstock, stock.adobe.com
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München – Auf dem Präparat Lenacapavir als halbjährliche Injektion zum Schutz vor HIV ruhen große Hoff­nungen im Kampf gegen Aids. Das Medikament des Herstellers Gilead hatte in einer Phase-3-Studie HIV-Infektionen bei Frauen mit einer 100 prozentigen Sicherheit verhindert.

Die Ergebnisse wurden im New England Journal of Medicine (NEJM) (DOI: 10.1056/NEJMoa2407001) ver­öffent­licht und heute auf der Welt-Aids-Konferenz in München (22. bis 26. Juli) vorgestellt. Gilead kündigte ein Programm zur Lizenzvergabe an Generikahersteller an.

Bereits am 20. Juni hatte Gilead bekanntgegeben, dass die Purpose-1-Studie mit mehr als 5.000 Cisfrauen wegen guter Ergebnisse vorzeitig beendet worden ist und allen Versuchsteilnehmerinnen Lenacapavir als HIV-Prävention angeboten worden war.

In die Studie waren 5.338 Frauen in Uganda und Südafrika zwischen 16 und 25 Jahren mit einem hohen HIV-Risiko eingeschlossen. Ende Mai hatte die Hälfte der Teilnehmerinnen 52 Wochen follow-up erreicht. Durch die Einnahme von Lenacapavir konnte das Infektionsrisiko von 2,41 pro 100 Personenjahre auf 0 gesenkt werden (95-%-Konfidenzintervall, 0,00 bis 0,04; p<0.001).

Dagegen ist es bei den Standardmedikamenten Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil (Truvada) zu 16 Infektionen unter 1.068 Frauen gekommen (Inzidenz 1,69 pro 100 Personenjahre) und unter Einnahme von Emtricita­bin/Tenofoviralafenamid (Descovy) zu 39 Infektionen unter 2.136 Frauen (Inzidenz 2,02 pro 100 Personen­jahre). Das Deutsche Ärzteblatt () hatte berichtet. Nach Evaluation der Interimsergebnisse wurde die Studie in einen Open-Label-Versuch überführt.

Bessere Effektivität als ein möglicher Impfstoff

Als „bahnbrechend“ bezeichnete der Infektiologe Christoph Spinner vom Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München, die Ergebnisse. „Erstmals zeigt ein vorbeugend eingesetztes antivirales Präparat bei Menschen mit erhöhtem Risiko für HIV einen 100 prozentigen Schutz vor HIV“, sagte Spinner dem .

„Das ist mehr als man sich von einem Impfstoff jemals hätten erhoffen können.“ Spinner hält die Entwicklung von Impfstoffen dennoch für wichtig, wobei bislang alle Versuche gescheitert seien. Grund dafür sei die Ver­änderung der Oberflächenproteine von HIV, sodass die Ausbildung stabil und breit neutralisierender Antikör­per für alle HIV-Klassen kaum gelinge.

Auch der HIV-Forscher Hendrik Streeck, Leiter der Virologie am Universitätsklinikum Bonn, gibt sich optimis­tisch, dass sich mit Lenacapavir die Möglichkeit bietet, die Aids-Epidemie einzudämmen.

Vorteile speziell für Frauen

Zwar gebe es noch viele offene Fragen, doch „wenn es so ist, dass wir mit dem Wirkstoff 100 prozentigen Schutz vor einer Infektion erreichen können, dann muss dieser flächendeckend zur Verfügung gestellt wer­den“, so Streeck. Dies sei gerade für afrikanische Länder mit einem hohen HIV-Risiko von großer Wichtigkeit und biete zudem speziell bei Frauen Vorteile.

Diese hätten einen anderen Metabolismus als Männer, sodass der Wirkstoffspiegel täglich einzunehmender Mittel zur Präexpositionsprophylaxe schneller fielen. „Zusätzlich gibt es durch Stigmatisierung von Frauen in dieser Gruppe eine geringere Adhärenz bei der Einnahme einer täglichen HIV-PrEP“, so Streeck.

In der aktuellen Studie war eine geringe Adhärenz der Grund für den schlechteren Schutz durch Truvada und Descovy. Eine höhere Einnahmetreue war dagegen mit einer signifikant niedrigeren HIV-Infektionsrate ver­bunden (Odds Ratio 0,11 95-%-KI: 0,012 bis 0,049; p=0,0006).

Weitere Gründe für eine geringere Adhärenz sind laut einem NEJM-Kommentar zur Studie (DOI: 10.1056/NEJMe2408591) neben dem Stigma auch lange Anreisezeiten, Angst vor Nebenwirkungen, unzuver­lässige klinische Arbeitszeiten und die Medikamentenkosten. Aufgrund der hohen Schwangerschaftsrate in der aktuellen Studie müsse nun zudem die Sicherheit von Lenacapavir während einer Schwangerschaft ge­prüft werden, schreiben die Kommentatoren.

Die HIV-Inzidenz unter heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen ist laut Report von UNAIDS (Programm der Vereinten Nationen für HIV und Aids) in Teilen des östlichen und südlichen Afrikas sowie des westlichen und zentralen Afrikas immer noch außerordentlich hoch. „Die Ungleichheit der Geschlechter verschärft die Risiken für Mädchen und Frauen und treibt die Pandemie voran“, heißt in dem Bericht.

Zu den offenen Fragen zu Lenacapavir gehört zudem etwa die Zahl an Nebenwirkungen, die sich über einen langen Behandlungszeitraum ergeben könnten. Etwa zwei Drittel der Teilnehmerinnen hatte Nebenwirkungen an der Injektionsstelle, allerdings haben nur 4 die Studie aufgrund dessen abgebrochen. Zudem läuft aktuell noch die PURPOSE-2-Studie, in der Lenacapavir an Männern erprobt wird. Ergebnisse dazu werden im kommenden Winter erwartet.

Programm zur Generika-Herstellung angekündigt

Ein Problem bei der flächendeckenden Therapie könnte zudem der Preis des Medikaments sein, was aktuell nur zur Behandlung von HIV-Infektionen zugelassen ist, nicht aber als Prophylaxe. Eine einjährige Behandlung in den USA geht laut Ärzte ohne Grenzen mit Kosten von gut 40.000 US-Dollar Jahr einher, während Emtricita­bin/Tenofoviralafenamid in Südafrika für etwa 50 Dollar pro Jahr erhältlich ist.

Bei der Vorstellung der Studie in München kündigte Hauptautorin Linda-Gail Bekker, Direktorin der Desmond Tutu Health Foundation, an, dass Gilead ein Programm zur freiwilligen Lizenzvergabe an potenzielle Generi­ka­hersteller entwickelt.

„Gilead stellt auch die Versorgung mit Lenacapavir in den Ländern sicher, in denen der Bedarf am größten ist, bis die Generikahersteller ihre Produkte liefern können“, so Bekker. Über den Preis für Lenacapavir als PrEP machte Gilead auf Nachfrage des keine Angaben.

In den vergangenen Tagen war bereits eine Diskussion über die Bezahlbarkeit des Mittels entbrannt. Nichtre­gierungsorganisationen hatten Gilead in einem offenen Brief aufgefordert, die Herstellung von Generika zu­zulassen.

Mit dem bisherigen hohen Preis „untergräbt Gileads Preisgestaltung das riesige Potenzial, das in diesem wissenschaftlichen Durchbruch steckt. Gleichzeitig bremst man die weltweiten Bemühungen um eine Trendwende im Kampf gegen HIV/Aids“, kritisierte Helen Bygrave, Expertin für chronische Krankheiten der Medikamentenkampagne von Ärzte ohne Grenzen (MSF).

Der Preis von 40.000 Dollar für eine Jahresbehandlung betreffe nur bestimmte Patienten und werde nicht für die künftige Prophylaxe gelten, kündigte Gilead laut Nachrichtenagentur DPA an. „Das ist Musik in meinen Ohren“, so Winnie Byanyima, Direktorin von UNAIDS.

In einem vorgestern veröffentlichten Interview mit der Nachrichtenagentur AFP hatte Byanyima den Her­steller aufgefordert, mit einer solchen Entscheidung „Geschichte zu schreiben.“ Einer Berechnung des Pharma­kologen Andrew Hill zufolge könnte der Preis des Medikaments durch die Genehmi­gung von Generikaversio­nen auf etwa 40 Dollar fallen.

Hill und seine Kollegen analysierten AFP zufolge auf Grundlage von Rohstoffpreisen und Gesprächen mit großen Generikaherstellern in China und Indien, wie günstig ein Nachahmerprodukt verkauft werden könnte. Dabei gingen sie davon aus, dass das Mittel für 10 Millionen Patienten bestellt wird. Die Ergebnisse unterlie­gen bislang keinem Peer-review-verfahren und werden ebenfalls auf dem AIDS-Kongress vorgestellt.

Lenacapavir könnte dem Infektiologen Spinner zufolge ein „Gamechanger“ sein, aber es müsse auch bei den Menschen ankommen, die am meisten gefährdet seien. „Auch in Deutschland ist es weiter ein Problem, dass trotz verfügbarer und wirksamer HIV-PrEP für 2023 erstmals wieder steigende HIV-Neuinfektionszahlen berichtet werden“. In der Risikogruppe der Männer, die Sex mit Männern haben, sei keine weitere Reduktion der HIV-Neuinfektionen gelungen.

Seit August 2022 ist Lenacapavir von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) in Kombination mit ande­ren antiretroviralen Mitteln zur Behandlung von multiresistenten HIV-Infektionen zugelassen. Der HIV-Kapsid-Inhibitor bindet direkt an Untereinheiten der Proteinhülle vom HI-Virus und stört so dessen Funktion.

Dadurch hemmt Lenacapavir die HIV-Replikation, ohne dass es Kreuzresistenzen gibt. Da die Zulassungsstudie von Lenacapavir nicht den Kriterien für eine Zusatznutzenbewertung entspricht, hat Gilead das Mittel bislang nicht auf dem deutschen Markt eingeführt.

Für eine Zulassung von Lenacapavir als PrEP strebt Gilead eine Entscheidung der EMA frühestens im 4. Quar­tal 2025 an. „Zum Datum einer Verfügbarkeit in Deutschland können wir zum jetzigen Zeitpunkt keine Aussa­ge treffen“, so Gilead auf -Anfrage.

mim/fri

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