Politik

Aufhebung der Impfpriorisierungen steht weiter in der Kritik

  • Montag, 17. Mai 2021
/picture alliance, Sina Schuldt
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Berlin – In mehreren Bundesländern wie Baden-Württemberg, Berlin, Bayern und Sachsen soll in dieser Woche die Priorisierung bei den Coronaimpfungen in Arztpraxen aufgehoben werden. Weitere Länder wie Hessen und Thürin­gen wollen nachziehen, wie sie heute ankündigten. Die Pläne stehen weiter in der Kritik.

Die Chefin des Marburger Bundes (MB), Susanne Johna, warnte etwa erneut vor der Aufhebung der Impfpriorisie­rung in Arztpraxen. Dadurch ge­be es nicht mehr Impfstoff, „sondern einfach noch mehr Menschen, die um ein knappes Gut konkurrie­ren“, sagte Johna im Deutschlandfunk.

Wer besonders drängele komme dadurch möglicherweise früher zum Zug, als Menschen, die besonders geschützt werden müssten. Schon jetzt fühlten sich viele niedergelassene Ärzte „wie die letzte Mauer“ bei der Impfstoffvergabe.

Die Impfpriorisierung habe nicht nur die Menschen vorgezogen, die ein Risiko hatten schwer zu erkran­ken, sondern habe auch Menschen mit einem geringeren Risiko eine Vorstellung davon gegeben, wann sie drankommen, sagte sie.

„Wenn ich jetzt gleichzeitig allen Menschen die Vorstellung gebe, sie könnten drankommen, gleichzeitig aber das Gut so knapp ist, dass das gar nicht möglich ist, führt das doch zu Frustration.“ Mit Blick auf möglicherweise verkürzte Impfabstände, um etwa früher in den Urlaub zu kommen, sagte Johna: „Das ist einfach medizinisch nicht sinnvoll und so dürfen wir mit dem knappen Gut nicht umgehen.“

Ähnlich sieht das die Kassenärztliche Vereinigung Brandenburg (KVBB). „Die aktuelle Diskussion um die Erweiterung und gar Aufgabe der Priorisierung ist aus unserer Sicht we­nig zielführend – wenn nicht so­gar populistisch“, mahnte KVBB-Chef Peter Noack.

Es würden in der breiten Bevölkerung Hoffnungen auf sehr schnelle Impftermine geweckt, die nicht er­füllt werden könnten. Es werde viele enttäuschte Impf­willige geben. Grund sei der Mangel an Impfstoff. Erst wenn gesichert und dauerhaft ausreichend Impf­stoff verfügbar sei, sollte die Priorisierung fallen.

Ethikratsmitglied Andreas Lob-Hüdepohl sieht die Aufhebung der Impfpriorisierung kritisch. Es verstoße gegen das Prinzip der Gerechtigkeit, „die noch nicht durchgeimpften Personen mit höherer Dringlichkeit dem Windhund- und Ellenbogenprinzip auszusetzen“, sagte der Berliner Theologe der Welt. Aus Sicht von Lob-Hüdepohl setzen die Länder mit der Priorisierung auch das Gerechtigkeitsprinzip in der Impf­stoffverteilung außer Kraft.

In Berlin gab es heute Verwirrung um die Aufhebung der Priorisierung. Die ist zwar quasi erfolgt, soll aber nachrangig genutzt werden. Zunächst sollten weiterhin die priorisierten Gruppen geimpft werden, sagte ein Sprecher der Senatsver­waltung für Gesundheit dazu. Allerdings dürften Haus- und Facharzt­praxen seit heute von der vorgeschrie­benen Reihenfolge abwei­chen, wenn sie ihre Impfdosen nicht für priorisierte Gruppen verbrauchen könnten.

Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) hatte am Freitag argumentiert, den Arzt­praxen und Betriebsärzten solle mehr Flexibilität gegeben werden. In einem Schreiben von Gesund­heits­staatssekre­tär Martin Matz an den Vorstand der KV war die Rede von einer „bedingten Aufhebung der Prio­risierung“.

Eine Sprecherin der Kassen­ärztlichen Vereinigung (KV) Berlin sagte an­ders als etwa in Baden-Württem­berg sei die Priorisierung nicht aufgehoben. In den Berliner Arztpraxen gelte weiter die festgelegte Impf­reihenfolge.

In der Diskussion um das Thema hatte die KV Berlin am vergangenen Donnerstag scharf gegen eine vollständige Aufhebung der Impfreihenfolge protestiert. Aus ihrer Sicht fehlt es den Ärzten an ausrei­chend Impfstoff, um auch nur die Menschen aus den Vorranggruppen umfassend impfen zu können.

Bei den Coronaimpfungen in Deutschland soll nach Plänen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ab dem 7. Juni keine Priorisierung mit einer festgelegten Reihenfolge mehr gelten. „Damit sind alle Bürgerinnen und Bürger ab 16 Jahren berechtigt, einen Impftermin zu vereinbaren“, heißt es in einem Beschlussentwurf des Bundes für Beratungen mit den Gesundheitsministern der Länder.

Ab 7. Juni solle die Priorisierung bundesweit in Arztpraxen und den regionalen Impfzentren entfallen, heißt es in dem Vorschlag. Zugleich wird betont, dass aufgrund der aktuell erwarteten Liefermengen nicht gleich alle Impfwilligen bereits im Laufe des Juni geimpft werden könnten. „Die Impfkampagne wird wie angekündigt bis zum Ende des Sommers fortgesetzt werden müssen.“

Weiter geführt wird auch die Debatte um Rechte von Geimpften und nicht Geimpften. Ethikratsmitglied Andreas Lob-Hüdepohl forderte mehr Freiheiten für Nichtgeimpfte: „Wer einen negativen aktuellen PCR-Test vorwei­sen kann, muss eine Party besuchen können, ähnlich wie Geimpfte“. Ansonsten sehe er ein Akzeptanz­problem.

Der Deutsche Hausärzteverband befürwortete heute beim Coronaimpfstoff von Astrazeneca mehr Frei­hei­ten für Erstgeimpfte. „Ansonsten gibt es das Dilemma: Entweder wird Astrazeneca erst gar nicht ge­wählt. Oder jemand will die zweite Impfung schon nach vier Wochen haben“, sagte Verbandschef Ulrich Weigeldt der Wirtschaftswoche. Das sei aber nicht nur sinnlos, sondern könne sogar negative Effekte haben.

„Deshalb kann für Astrazeneca gerade ein positiver Anreiz gesetzt werden, wenn nach der ersten Spritze schon die gleichen Freiheiten gelten wie für diejenigen, die zwei Dosen Biontech oder Moderna be­kom­men haben.“ Bereits nach der ersten Impfung mit einem Vektorimpfstoff wie Astrazeneca sei der Impf­schutz „sehr hoch“, argumentierte Weigeldt.

Aber: „Selbstverständlich darf für den vollen Impfschutz nicht auf die zweite Dosis verzichtet werden.“ Am Wochenende hatte sich auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) für Erleich­terungen von Astrazeneca-Erstgeimpften ausgesprochen.

In Absprache mit dem Arzt kann man bei Astrazeneca seit Kurzem frei entscheiden, wann in der zuge­las­senen Span­ne von vier bis zwölf Wochen die Zweitimpfung erfolgen soll. Die Impfkommission empfiehlt für das Prä­parat einen Abstand von zwölf Wochen zwischen erster und zweiter Dosis.

Hintergrund sind Beobachtungen, dass der längere Abstand zu einer besseren Wirksamkeit führt. Die Wirksamkeit einer zweimaligen Impfung im Abstand von vier bis acht Wochen liege laut einem Bericht der europäischen Zulassungsbehörde EMA bei 50,4 Prozent. Bei zwölf und mehr Wochen steige sie auf 72,1 Prozent bis 82,4 Prozent an.

dpa/may

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