Breites Bündnis will psychische Erkrankungen aus der Tabuzone holen

Berlin – Drei Bundesministerien und rund 50 Behörden und Organisationen wollen gemeinsam das Thema psychische Erkrankungen aus der Tabuzone holen und die Präventionslandschaft in Deutschland besser vernetzen.
Die „Offensive Psychische Gesundheit“ solle dazu beitragen, „dass Menschen ihre eigenen psychischen Belastungen und Grenzen besser wahrnehmen und auch mit ihrem Umfeld offener darüber sprechen können", erklärten die Ministerien für Gesundheit, Arbeit und Familie heute gemeinsam in Berlin.
Die Coronapandemie bedeute für viele Menschen „eine enorme Belastung, die bei manchen psychische Störungen auslösen kann, die behandelt werden müssen", erläuterte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). „Gerade in dieser Zeit ist es deshalb wichtig, mit Aufklärungsarbeit und Unterstützungsangeboten für psychische Gesundheit zu sensibilisieren und einen frühen Zugang zu Hilfe zu erleichtern.“
Über körperliche Erkrankungen sei es leicht zu sprechen, über psychische Erkrankungen „meint man nicht sprechen zu können“, so der Minister. Das wolle man durch die Offensive ändern.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) lenkte den Blick auf die Arbeitswelt: „Viele Menschen erleben an ihrem Arbeitsplatz einen schmalen Grat zwischen Belastung und Überlastung“, erklärte er. „Wir möchten Arbeitgeber dabei unterstützen, die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz zu stärken.“ Das liege auch in ihrem wirtschaftlichen Interesse, denn psychische Erkrankungen seien mit hohen Ausfallzeiten und entsprechendem wirtschaftlichen Schaden verbunden.
Mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz habe sein Ministerium bereits Regelungen für einen verbindlichen Arbeitsschutz auf den Weg gebracht, die auch die psychische Gesundheit umfassten, betonte Heil.
Hamsterrad an Anforderungen
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) sprach vom „Hamsterrad aus alltäglichen Anforderungen und Verpflichtungen in Familie, Beruf und Pflege, das hohen Druck entstehen lassen kann“. Jede dritte Mutter und jeder fünfte Vater fühle sich durch den täglichen Druck belastet. Auch Schüler seien einem hohen Erwartungsdruck ausgesetzt.
„Wir senden mit der Offensive ein Signal an Betroffene und ihr Umfeld, dass sie nicht alleine sind, sondern es zahlreiche Unterstützungsangebote gibt“, sagte Giffey. Dazu gehörten beispielsweise gute Beratungsangebote wie die „Nummer gegen Kummer“ für Eltern und Kinder oder die „Pausentaste“ für pflegende Jugendliche.
An der „Offensive Psychische Gesundheit" sind unter anderem die gesetzlichen und privaten Krankenkassen beteiligt, die Rentenversicherung, Unfallversicherungsträger und Berufsgenossenschaften, die Bundesagentur für Arbeit, Psychologen- und Psychotherapeutenverbände sowie Bündnisse und Betroffeneneinrichtungen im Bereich psychische Gesundheit. Insgesamt machen nach Angaben der Ministerien mehr als fünfzig Institutionen mit.
Wichtiges Zeichen zur richtigen Zeit
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und ihr Aktionsbündnis Seelische Gesundheit begrüßen die Initiative „als wichtiges Zeichen zur richtigen Zeit“.
„Der Schlüssel zu psychischer Gesundheit liegt in der Stärkung der Prävention, Behandlung und Rehabilitation von psychischen Erkrankungen. Die Angebote müssen besser vernetzt und niedrigschwellig zugänglich sein“, fordert DGPPN-Präsident Andreas Heinz.
Zusammen mit einer Verbesserung der Gesundheitskompetenz könne so die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit psychischen Erkrankungen befördert und deren Entstigmatisierung vorangetrieben werden.
Auch die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) begrüßt die Offensive und macht darauf aufmerksam, dass psychische Erkrankungen für rund 42 Prozent der Frührenten aufgrund langfristiger Arbeitsunfähigkeit verantwortlich sind. Dieser Anteil habe sich in den letzten 25 Jahren fast verdreifacht. Psychische Erkrankungen seien damit die häufigste Ursache für Renten wegen Erwerbsminderung.
Noch kein Kommunikationsfaktor am Arbeitsplatz
„Vor allem andauernde Belastungen und Konflikte am Arbeitsplatz können zu chronischer Erschöpfung, Depressionen oder Suchterkrankungen führen“, stellt BPtK-Präsident Dietrich Munz fest. In den Betrieben seien psychische Erkrankungen zwar inzwischen ein anerkannter Kosten-, aber noch lange kein Kommunikationsfaktor.
„Es fehlt ein offener und zugewandter Umgang mit psychisch angeschlagenen Kolleginnen und Kollegen. Konkurrenz- und Karrieredenken verhindern noch zu oft, dass sich psychische Beschwerden eingestanden werden“, so Munz.
Linke fordern Anti-Stress-Verordnung
Die Linken-Arbeitsexpertin Jutta Krellmann kritisierte die Initiative als nicht ausreichend. „Aufgeklärt sind wir schon, wenn es um Stress bei der Arbeit geht“, erklärte sie in Berlin. „Krankmachende Arbeitsbedingungen müssen endlich konsequent verhütet werden. Dafür brauchen wir eine Anti-Stress-Verordnung mit klaren Regeln, um psychische Belastungen im Arbeitsleben einzudämmen“, fordert sie.
Eine solche Verordnung ist nach Ansicht der Linken eine wichtige Hilfe für Unternehmen, Betriebsräte und Arbeitsschutzbehörden. Bereits 2013 habe der Bundesrat den Entwurf einer solchen Verordnung beschlossen.
„Die Bundesregierung muss ihn nur übernehmen, wenn sie es ernst meint mit der psychischen Gesundheit“, sagte Krellmann. „Es ist sehr erfreulich, dass heute der Startschuss zur Offensive Psychische Gesundheit gefallen ist. Die Coronapandemie hat das Bewusstsein für psychische Gesundheit geschärft.
Dabei besteht das Problem schon viel länger – und die Herausforderungen sind vielfältig und übergreifend“, erklärt der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Peter Weiß. Wichtig sei, die Präventionsakteure miteinander zu vernetzen und das Thema psychische Gesundheit zu enttabuisieren.
Diskutieren Sie mit
Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.
Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.
Diskutieren Sie mit: