Bundestag will „Euthanasie“-Opfer als NS-Verfolgte anerkennen

Bonn – Rund 100.000 Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen – die Zahlen sind unterschiedlich – sind zwischen 1939 und 1945 im Deutschen Reich ermordet worden. Bis zu 400.000 Männer und Frauen wurden zwangssterilisiert, mehr als 6.000 von ihnen überlebten den Eingriff nicht.
Die Zahl der „Euthanasie“-Opfer im von Deutschen besetzten Europa wird auf 300.000 geschätzt. Morgen will der Bundestag die Opfer der NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation als Verfolgte des Nazi-Regimes anerkennen. Damit soll auch die Forschung über Opfer und Täter erleichtert werden.
Das am 14. Juli 1933 verkündete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sollte die „rassisch minderwertigen“ Kranken eliminieren und der „Höherzüchtung“ des Volkes dienen.
Danach konnte ein Erbkranker unfruchtbar gemacht werden, wenn „mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden“. Das Gesetz bedeutete für Zehntausende „Geisteskranke“, Epileptiker, Blinde, Taube, Körperbehinderte und Suchtkranke die zwangsweise Sterilisierung oder den Tod.
Hitler selber hatte sich für das Thema interessiert: Während seiner Haft 1924 las er den „Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“ der Professoren Erwin Bauer, Eugen Fischer und Fritz Lenz. Während der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre schlugen die Eugeniker vor, Armut medizinisch zu beseitigen und durch Sterilisierung „Minderwertige“ zu verhindern.
Während der NS-Diktatur wurden Polizei-, Fürsorge- und Krankenakten systematisch durchforstet, um jeden „Erbkranken“ notfalls mit Polizeigewalt auf den OP-Tisch zu verfrachten. Professoren und Anstaltsdirektoren betätigten sich als Richter an 220 Erbgesundheitsgerichten.
Die Forderungen nach einer „Tötung lebensunwerten Lebens“ radikalisierten sich zusehends. 1935 wurden die Schwangerschaftsabbrüche aus eugenischer Indikation freigegeben – die Grundlage für rund 30.000 Abbrüche.
Mit dem Zweiten Weltkrieg schienen alle Dämme zu brechen: Ohne gesetzliche Grundlage ordnete Hitler im Oktober 1939 – sein Erlass wurde bezeichnenderweise auf den Tag des Kriegsbeginns am 1. September rückdatiert – an, „dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken [...] der Gnadentod gewährt werden kann“.
Die ersten Opfer waren Kinder. Im Rahmen der sogenannten „Kindereuthanasie“ ermordeten Ärzte bis Kriegsende mindestens 5.000 Jungen und Mädchen. Bis August 1941 fielen der „Erwachseneneuthanasie“ rund 70.000 Insassen von Heil- und Pflegeanstalten zum Opfer.
Die Aktion wurde nach dem Sitz der verantwortlichen Dienststelle in der Tiergartenstraße 4 in Berlin „T4“ genannt. Gemordet wurde in den Tötungsanstalten Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Sonnenstein, Bernburg und Hadamar.
Erst die Predigten des katholischen Bischofs von Münster, Clemens August von Galen, ließen die Mordaktion zumindest zeitweise zum Erliegen kommen. Am 3. August 1941 prangerte der „Löwe von Münster“ den organisierten Mord an Altersschwachen und Geisteskranken an.
„Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den ‚unproduktiven‘ Menschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden“, warnte er.
Der massive Luftkrieg ab 1943 und der wachsende Bedarf an Krankenhäusern lieferte dann den Vorwand, um die Ermordung von Insassen von Heil- und Pflegeanstalten wieder aufzunehmen. Nach Schätzungen wurden nach August 1941 nochmals mindestens 30.000 Menschen ermordet, vor allem durch Gas.
Das sogenannte „Euthanasieprogramm“ hatte damit zwar bei weitem nicht die Ausmaße des Holocaust. Es war jedoch ein Testfeld für die industrialisierte Tötung von unliebsamen Menschen und dafür, wie weit die Geheimhaltung funktionierte und Menschen bereit waren, mitzumachen.
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