Wissen über Medizinverbrechen in NS-Zeit verstärkt in medizinische Lehre integrieren

Berlin – Die Vermittlung von Wissen über grausame, medizinische Experimente, durchgeführt von Ärztinnen und Ärzten während des Holocausts, sollte künftig viel stärker in die medizinische Ausbildung integriert werden. Das fordert ein Report von 20 Wissenschaftlerinnen und Ärzten, der vergangene Woche in dem Fachjournal The Lancet veröffentlicht worden ist (2023; DOI: 10.1016/S0140-6736(23)01845-7).
„Die Geschichte der Medizin aus der Nazizeit und im Holocaust ist heute relevant für jeden Bereich der Medizin und Gesundheitsversorgung“, betonte Sabine Hildebrandt, eine der Mitautorinnen gestern bei einer Veranstaltung zur Vorstellung des Reports.
Dies sei relevant für die Wahrnehmung von Gesundheitsberufen als auch für die Diskussionen innerhalb der Berufsgruppen. Hildebrandt ist Pädiaterin an der Boston Children’s Hospital und lehrt an der Harvard Medical School.
Die Gräueltaten, die insbesondere Ärzte während des Naziregimes begangen haben, seien als Warnung für heutige Zeiten zu verstehen. „Die Grundwerte und die Gesundheitsethik sind fragil und müssen geschützt werden“, forderte Hildebrandt.
Es bedarf einer konstanten kritischen Evaluierung und Beurteilung dieser Werte insbesondere in der Medizin. Zudem braucht es auch Mut, Widerstand und Resilienz im Gesundheitswesen, um auf mögliche Missstände aufmerksam zu machen, so Hildebrandt.
Wichtig sei insbesondere, individuelle Menschenrechte in der Medizin zu wahren. Ärzte hätten ihre Taten damals nicht als grausam bewertet, weil sie den betroffenen Menschen keine Menschenrechte zugestanden hätten, so die Medizinerin.
Hildebrandt forderte Medizinerinnen und Mediziner deshalb auf, sich auch politisch zu beteiligen und sich etwa für marginalisierte Gruppen und gegen Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. „Wir wissen durch unsere medizinische Praxis und Wissenschaft, dass wir alle den gleichen menschlichen Körper und Geist und deshalb auch gleiche Menschenrechte haben“, betonte Hildebrandt. „Jeder Mensch verdient Würde und Respekt.“
Lehre der Vergangenheit wappnet für Herausforderungen und Diskriminierung
Entsprechend müssten Ausbildungs- und Weiterbildungsinhalte die Geschichte künftig viel stärker reflektieren, erklärte der Familienarzt und Mitautor Shmuel Reis von der Hebrew University Hadassah Medical School of Jerusalem. Dies würde mutiges und resilientes Gesundheitspersonal hervorbringen, das besser gewappnet sei, um künftige Herausforderungen zu bewältigen, davon ist Reis überzeugt.
„Die Geschichte sollte heute genutzt werden, um Rassismus zu verhindern“, so Reis. Wichtig sei auch, sich bewusst zu sein, wo etwa im Gesundheitswesen Macht missbraucht werden könne. Diesen Möglichkeiten müsse aktiv entgegengewirkt werden.
Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx, betonte, es sei notwendig, junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Medizinstudierende Prinzipien der Ethik zu lehren, die nach den Nürnberger Prozessen nach dem Holocaust weiterentwickelt worden sind.
Diese Prinzipien werden bei allen Diskussionen des Ethikrates etwa über Sterbehilfe berücksichtigt und immer wieder diskutiert, so Buyx. In diesem Sinne begrüßte sie den Lancet Report und freue sich über den hilfreichen Empfehlungen der Autorinnen und Autoren.
Bei der Veranstaltung sprachen auch einige Vertreter von Institutionen aus dem Gesundheitswesen, etwa der Max-Planck-Gesellschaft, das Robert-Koch-Institut (RKI) und die Bundesärztekammer (BÄK), über die Aufarbeitung der eigenen Rolle während des NS-Regimes.
Erstmalig erwähnte der damalige Präsident der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, 1987 die Verantwortung der Ärzteschaft während des Holocausts auf dem damaligen Deutschen Ärztetag, berichtete Klaus Reinhardt, aktueller BÄK-Präsident. Ab 1996 habe der Deutsche Ärztetag zudem die eigene Rolle während dieser Zeit diskutiert und das Leid der Betroffenen von Zwangssterilisationen, Euthanasie und Zwangsarbeit anerkannt, so Reinhardt.
Heute pflege die BÄK enge Beziehungen mit der israelischen Ärztekammer. „Es ist wichtig, persönlich mit Betroffenen in Kontakt zu kommen“, sagte Reinhardt. Man diskutiere über das, was passiert sei und trauere auch gemeinsam.
Zudem stehe die BÄK den israelischen Kolleginnen und Kollegen angesichts der Attacken der Hamas bei, so Reinhardt. „Antisemitismus darf keinen Platz in Deutschland und in der Welt haben“, betonte Reinhardt. Die Geschichte entsprechend zu adressieren sei bei der Ausbildung von jungen Menschen wichtig.
Außerdem seien die medizinischen Gräueltaten und wie damit nach 1945 umgegangen worden ist, als Lernziel im Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM) integriert worden, erklärte Reinhardt. Dieser Katalog definiert Kompetenzen, die maßgeblich für die Gestaltung der Lehrinhalte der medizinischen Fakultäten in Deutschland sind.
Auch die Max-Planck-Gesellschaft habe in den 1990er-Jahren begonnen, die eigene Geschichte zu reflektieren, erklärte Arno Villringer vom Max-Planck-Institut. So gebe es heute etwa eine Gedenkstätte sowie eine neue Ausstellung über Eugenik an der Stelle in Berlin, an der das Institut damals noch unter dem Namen Kaiser Wilhelm-Gesellschaft direkt an medizinischen Experimenten der Nazis beteiligt war.
Das RKI habe in den vergangenen Jahren insbesondere zu den Biographien der zwölf Menschen recherchiert, die 1933 gezwungen worden sind, das Institut zu verlassen, berichtete zudem RKI-Präsident Lars Schaade. Es gebe außerdem auch ein Denkmal im Eingangsbereich des Instituts, das an die Rolle des Instituts während des NS-Regimes erinnern soll.
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