EU-Kommission legt Gesetz gegen Arzneimittelengpässe vor

Berlin – Mit mehr Zusammenarbeit und Anreizen für Pharmaunternehmen will die EU-Kommission Arzneimittellieferengpässe bekämpfen. Das geht aus einem heute vorgelegten Gesetzentwurf hervor. Demnach will die Kommission künftig auch selbst Arzneimittel beschaffen können.
Mit einem „industriepolitischen Werkzeugkasten“ in Form des sogenannten „Critical Medicines Act“ will die Kommission die Versorgungssicherheit in Europa nachhaltig verbessern. Hauptziel ist dabei, dass sich wieder mehr pharmazeutische Produktion auf dem Kontinent ansiedelt und die EU-Mitgliedstaaten ihre Maßnahmen besser koordinieren.
„Engpässe können das Leben von Patienten gefährden und eine erhebliche Belastung für unsere Gesundheitssysteme darstellen“, erklärte die Kommission heute in Brüssel. „Diese Initiative trägt zu dem Ziel der Europäischen Gesundheitsunion bei, sicherzustellen, dass die Patienten in der EU Zugang zu den Arzneimitteln haben, die sie brauchen, wenn sie sie brauchen.“
Dazu müssten Lieferketten diversifiziert, die Produktion innerhalb der EU gestärkt und ihre Abhängigkeit von Anbietern in Indien und China verringert werden. Eine Abfrage unter den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten habe ergeben, dass rund 50 Prozent aller Engpässe auf Produktionsprobleme zurückzuführen seien.
Kern des Gesetzesvorhabens ist es deshalb, die Mitgliedstaaten durch Zugang zu EU-Mitteln in die Lage zu versetzen, mittels „strategischer Projekte“ Herstellungskapazitäten für wichtige Arzneimittel in Europa zu schaffen, zu erhöhen oder zu modernisieren. Dafür sollen bestimmte Anreize und Erleichterungen gelten.
So sollen Genehmigungsverfahren und Umweltprüfungen beim Bau neuer Produktionsstätten beschleunigt sowie administrative, regulatorische und wissenschaftliche Unterstützung für die Unternehmen erleichtert werden. Erhalten solche strategischen Projekte finanzielle Unterstützung von der EU, sollen sie bestimmte Auflagen erfüllen müssen, beispielsweise eine vorrangige Belieferung europäischer Märkte.
Da auch die Kommission davon ausgeht, dass das Gros der in Europa verwendeten Arzneimittel nicht zu den notwendigen wirtschaftlichen Preisen innerhalb der EU produziert werden kann, sollen strategische Partnerschaften mit Drittstaaten, beispielsweise auf dem Balkan oder in Südamerika, geprüft werden.
Der Bezug aus diesen Ländern könne ebenfalls helfen, Lieferketten zu diversifizieren und die Abhängigkeit von einzelnen Produzenten und Herkunftsländern zu verringern.
Als weiterer Grundpfeiler des Vorhabens soll die öffentliche Beschaffung von Arzneimitteln gestärkt werden. Dazu werde die Kommission Leitlinien für Kriterien ausarbeiten, die die Beschaffungsstellen in den Mitgliedstaaten bei ihren Vergabeverfahren anwenden können.
Zentral ist dabei, dass in öffentlichen Vergabeverfahren für kritische Arzneimittel andere Anforderungen als der Preis die höchste Priorität haben sollen – beispielsweise Kriterien, die sich auf diversifizierte Bezugsquellen von Wirkstoffen, die Bevorratung oder die Überwachung von Lieferketten beziehen. So sollen vor allem bei für die Versorgung kritischen Arzneimitteln Hersteller bevorzugt werden können, die einen erheblichen Anteil innerhalb der EU produzieren.
Außerdem soll die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten gestärkt werden. Dazu sollen sie von der Kommission Unterstützung bei der Anwendung verschiedener Instrumente zur gemeinsamen Beschaffung erhalten. Eine gemeinsame Beschaffung könne zu Skaleneffekten führen und so vor allem zugunsten kleinerer Staaten Ungleichheiten bei Zugang und Verfügbarkeit von Arzneimitteln verringern.
Die Kommission werde aber nicht nur die grenzüberschreitende Beschaffung unterstützen, sondern soll auch in die Lage versetzt werden, im Auftrag der Mitgliedstaaten selbst Arzneimittel zu beschaffen. Solche Beschaffungsverfahren sollten aber immer freiwillig sein und die Grundsätze von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit wahren, versichert die Kommission.
Die Maßnahmen sollen sich vorerst auf Medikamente der europäischen Liste kritischer Arzneimittel konzentrieren, die die Kommission in Zusammenarbeit mit der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) und den Behörden der Mitgliedstaaten erarbeitet hat. Diese enthält derzeit über 270 Wirkstoffe, die zur Behandlung von Krankheiten wie Infektionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychischen Erkrankungen und Krebs eingesetzt werden.
Der Gesetzentwurf gehe in großen Teilen auf Vorschläge der Critical Medicines Alliance zurück, die im April vergangenen Jahres gegründet worden war, und soll komplementär sein zur Reform des EU-Arzneimittelrechtsrahmens, über deren genaue Ausgestaltung das EU-Parlament und der Rat der Staats- und Regierungschefs derzeit noch verhandeln.
„Das Gesetz ist ein Schlüsselaspekt unseres holistischen Vorgehens, um den Mitgliedstaaten den Zugang zu kritischen Arzneimitteln zu erleichtern“, erklärte der EU-Kommissar für Gesundheit, Oliver Várhelyi, heute bei der Vorstellung des Entwurfs in Brüssel.
Europa sei sehr abhängig von einem „sehr kleinen geographischen Bereich von Ländern, was uns verwundbar macht“. Ziel sei müsse deshalb die „strategische Autonomie Europas bei der Medikamentenversorgung“ sein.
Das Gesetz beinhalte im Wesentlichen eine Kombination aus der Rückverlagerung der Produktion nach Europa und der Kooperation mit anderen Märkten. „Wenn wir das zusammenlegen, werden wir eine wesentlich größere Versorgungssicherheit erreichen als bisher“, unterstrich Várhelyi.
Ausdrückliche Unterstützung erhält der Gesetzentwurf aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP). „Dies ist ein extrem mutiger Aufschlag der Europäischen Kommission zur Lösung eines extrem großen Problems“, erklärte der EVP-Abgeordnete Peter Liese.
Ein Grundproblem sei weiterhin, dass die Produktion in Europa derzeit nicht ausreichend vergütet werde. Es müsse von den Kostenträgern – beispielsweise den deutschen Krankenkassen – honoriert werden, wenn Medikamente in der EU produziert werden. „Wir brauchen die Marktmacht von 450 Millionen Menschen, damit sich die Produktion in Europa wieder lohnt. Das wird zwar Geld kosten, aber ich bin überzeugt, dass das Gesundheitssystem unterm Strich Kosten einsparen wird“, betonte Liese.
Gemischtes Feedback kam hingegen aus der Industrie. „Die Kommission geht mit dem heute veröffentlichten Vorschlag einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung“, erklärte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI), Kai Joachimsen.
Allerdings sei Vorsicht geboten, wenn die Regelungen über kritische Arzneimittel hinaus ausgeweitet werden sollen oder die Zuständigkeiten zwischen Mitgliedstaaten und Kommission nicht klar verteilt sind. Zudem stelle sich im Zusammenspiel zwischen Mitgliedstaaten und EU die Frage, wie die Finanzierung einzelner Maßnahmen aussehen soll. „Hier ist auch die neue Bundesregierung gefragt“, so Joachimsen.
Der Verband Pharma Deutschland betont wiederum, dass er das geplante Gesetz zwar begrüßt. „Die EU-Gesundheitspolitik braucht aber nicht nur einen Notfallplan. Die Tatsache, dass wir den Critical Medicines Act benötigen, sollte von der Politik auch als Weckruf verstanden werden“, betonte Hauptgeschäftsführerin Dorothee Brakmann. Auch Deutschland müsse dringend weitere konkrete Schritte unternehmen, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Diskutieren Sie mit
Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.
Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.
Diskutieren Sie mit: