Politik

Gesundheitssystem auf Krisenfälle nicht ausreichend vorbereitet

  • Dienstag, 10. Dezember 2024
/picture alliance, Marijan Murat
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Berlin – Deutschland und das Gesundheitssystem sind nicht ausreichend auf mögliche Krisenfälle – wie etwa einen Bündnisfall, die Landesverteidigung, große Fluchtbewegungen, Cyberangriffe auf Gesundheits­einrichtun­gen oder Terroranschläge – vorbereitet.

Zu dieser Erkenntnis kommt der Expertenrat „Gesund­heit und Resilienz“ in der siebten Stellungnahme, in der es um die Auswirkungen militärischer Konflikte, um hybride Bedrohungen und terroristische Aktivitäten geht.

An­genommen wird, dass es bereits vor dem Eintritt eines NATO-Bündnisfalles etwa zu Cyberangriffen auf die kritische Infrastruktur, wie etwa Krankenhäuser, kommen kann.

Die Ausweitung solcher Aktivitäten oder eine gezielte Sabotage von Strom-, Wasser- und IT-Infrastruktur von Leistungserbringern im Gesund­heits­­wesen, aber auch des Bevölkerungsschutzes sowie Sabotage von Industrie­anlagen mit gesundheits­gefährdenden Stoffen hätten das „Potenzial, die gesundheitliche Versorgung der Be­völkerung insgesamt zu beeinträchtigen“, heißt es.

In der nächsten Eskalationsstufe sei mit großen Fluchtbewegungen zu rechnen. Im Bündnis oder Angriffs­fall würde Deutschland zu einer logistischen Drehscheibe. Das betreffe unter anderem den Patienten- und Material­transport. Zudem sei mit „einem erheblichen Aufkommen“ an verwundeten Soldaten zu rechnen.

Nachholbedarf auf vielen Ebenen

Die Fachleute des Expertengremiums sehen Nachholbedarf auf vielen Ebenen und betonen in ihrer Analyse, dass die bestehenden gesetzlichen Grundlagen bislang nicht ausreichen. Dabei komme einem „robust aufge­stellten und resilienten Gesundheitssystem“ und dem gesund­heitlichen Be­völke­rungsschutz in allen Phasen von Krisen, sicherheits­relevanten Ereignissen und militärischen Konflikten eine „herausragende und stabilisierende Rolle“ zu.

Notwendig sei eine deutlich verbesserte, strukturierte zivil-militärische Zusammenarbeit bereits in der Vorbe­reitung. Dafür sei es notwendig, die rechtlichen Grundlagen für eine effiziente zivil-militärische Zu­sammen­arbeit bei Bund, Ländern und Kommunen vor Eintritt eines Spannungs- und Verteidigungsfalles zu schaffen.

„Wir sind nicht gut auf das Management von Großschadenslagen vorbereitet, die das Gesundheitswesen be­treffen und eine koordinierte Zusammenarbeit zwischen verschiedenen staatlichen Stellen erfordern“, sagte Heyo Kroemer, Vorsitzender des Expertenrats.

Health Security sei ein in Deutschland bislang im Wesentlichen unbeachtetes Thema. Angesichts verschiedener Krisen und Konflikte in Europa und daraus resultierenden Spannungen sollten bestehende Probleme „proaktiv durchdacht werden“.

„Neben der in weiten Teilen unzureichenden Infrastruktur, erschwert vor allem die starke Fragmentierung von Expertisen und Zuständigkeiten eine effektive Vorbereitung des Gesundheitswesens auf Sicherheitskrisen“, be­tonte Leif-Erik Sander, Mitglied des Rats sowie Koordinator der AG Health Security.

Um auch bei außergewöhnlichen Krisen die Gesundheitsversorgung aufrecht zu erhalten, seien daher dringend gezielte Investitionen und eine koordinierte, intensive Vorbereitung aller relevanten Akteure notwendig. „Dies erfordert neben klaren gesetzlichen Regelungen eine politische Prioritätensetzung für Gesundheitssicherheit.“

Hans-Ulrich Holtherm, ständiger Gast des Expertenrats, wies darauf hin, dass das Gesundheitssystem bereits aktuell regelmäßig hybriden Attacken, wie etwa Cyberangriffen auf die IT-Systeme ausgesetzt sei. „Um gegen solche und weitere, im Rahmen von Krisensituationen mögliche Risiken vorbereitet zu sein, ist eine resiliente Ausgestaltung des Gesundheitssystems in Deutschland notwendig. Die dazu erforderlichen Schritte sollten jetzt unverzüglich eingeleitet werden.“

Gesundheitssicherstellungsgesetz notwendig

Grundlage muss aus Sicht der Fachleute ein Gesundheitssicherstellungsgesetz sein, das „mit höchster Priorität ab­ge­schlossen werden sollte“. Angesichts der veränderten Sicherheitslage und existierender Defizite müssten die diesbezüglich nötigen Vor­bereitungs- und Organisationsaufgaben „unverzüglich angegangen werden“.

Regelungsbedarf besteht dem Bericht zufolge – mit Blick auf die Drehscheibenfunktion Deutschlands – hin­sicht­lich der Beschäftigung, Materialnutzung und Versorgung alliierter Kräfte sowie von Patienten. Auch die Bevorratung bestimmter Arzneimittel und Medizinprodukte sowie regelmäßige Ernstfallübungen für Gesund­heitskrisen sollten gesetzlich geregelt werden, heißt es.

Für den Zivilschutz und den militärischen Bereich und vor allem in der zivil-militärischen Zusammenarbeit listen die Fachleute eine ganze Reihe von Maßnahmen auf. Dazu gehört neben einer prozessualen Verzahnung und Aufgabenzu­tei­lung des zivilen und militärischen Bereiches in der Gesundheitsversorgung auf Basis eines Gesetzes zum Beispiel die Identifizierung und Ausbildung einer fachlich breit aufgestellten personellen Reserve für eine verbesserte Verstärkung im Krisenfall.

Genannt werden auch eine Risikokommunikation und Teilhabemöglichkeiten für die Bevölkerung, die Be­schrei­bung und Beübung logistischmedizinischer Drehscheiben, eine Materialbevorratung für verschie­dene Krisen­szenarien oder auch die Erstellung eines kontinuierlichen Lagebilds zu Kräften und Kapazitäten, zur Beurtei­lung der Auslastung von Gesundheitseinrichtungen, Notfallzentralen oder Transportmitteln.

Darüber hinaus müsse es eine Implementierung von Instrumenten zum strategischen Patiententransport nach dem Vorbild des während der Coronapandemie etablierten Kleeblattmechanismus geben, wie es heißt. Dabei gehe es um Steuerung/Koordination/Lagebild, Transportressourcen für einen gegebenen­falls weiträumigen Transport auch von großen Patientenzahlen und Patientenhaltekapazitäten.

Angemahnt werden auch weiterhin regelmäßige und gemeinschaftliche Übungen ziviler und militärischer Ak­teure zur Vorbereitung auf den Krisen- beziehungsweise Bündnisfall. Zugleich müssten zivile Gesund­heitsstruk­turen, insbesondere Kliniken der Maximalversorgung technisch und infrastrukturell ertüchtigt werden, „um einen kontinuierlichen Betrieb auch unter Krisenbedingungen aufrechtzuerhalten“.

Zu den genannten Punkten zählen die Fachleute unter anderem sowohl präklinische als auch klinische Behand­lungsressourcen, einen strategischen Patiententransport und eine regionale, kapazitätengesteuerte Patienten­ver­tei­lung.

Weiterhin genannt werden die Versorgung mit Medizinprodukten und Arzneimitteln sowie die Vorhal­tungen für den Medizinischen Schutz vor chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Bedrohungen (CBRN). Dieser Schutz müsse dabei etwa die Dekontamination Verletzter und die medizini­sche Behandlung spezifischer, durch den Einsatz von chemischen, biologischen, radiologischen sowie nuklearen Mitteln hervorgerufener Krankheits­bilder umfassen.

Frühzeitige Reaktion wichtig

Um die Resilienz des Gesundheitswesens weiter zu verbessern, rät der Expertenrat zu einer Reihe weiterer Ver­besserungen. So sollte die Aufrechterhaltung der Gesundheitssicherheit nicht nur reaktiv auf technische Maß­nahmen wie etwa Cyberabwehr bei Cyberangriffen beschränkt werden. Vielmehr müsse der gesundheitliche Schutz der Bevölkerung „frühzeitig, proaktiv und umfassend im Rahmen des Zivilschutzes gesichert werden“, heißt es.

Dazu gehörten auch die Vorbereitungen und Vorhaltungen für eine medizinische Unterstützung der Streitkräfte durch zivile Ressourcen. Beides zusammen entspreche den Grundlagen der „Konzeption Zivile Verteidigung“. Des Weiteren müssten die Aufgaben für die Bündnisverteidigung auch im Bereich der Gesundheitssicherheit vor­bereitet werden.

Dem Bericht zufolge hat der Bund bislang Spezialressourcen für die Bewältigung eines (CBRN-)Massen­anfalls von Verwundeten in der Zivilen Verteidigung aufgestellt, die die Vorhaltungen der Bundesländer entsprechend ergänzen.

Dazu gehört unter anderem etwa der Aufbau zusätzlicher sanitätsdienstlicher Fähigkeiten durch eine Medizi­nische Task Force (MTF) sowie das Erstellen von Verfahren und Prozessschritten für Einsatzkräfte, um bei der Versorgung bei einem Massenanfall von Verwundeten die bestmöglichen Entscheidungen treffen zu können.

Der Expertinnen- und Expertenrat „Gesundheit und Resilienz“ im Bundeskanzleramt ist das Nachfolge­gremium des Coronaexpertenrats. Erst kürzlich hatte sich auch die Bundesärztekammer (BÄK) mit dem Thema Gesund­heits­versorgung im Krisenfall ausführlich befasst. Ein Fazit war ebenfalls, dass das Gesundheitswesen bisher unzureichend auf einen länge­ren Ernstfall vorbereitet ist.

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