Gesundheitssystem nicht krisenfest, Expertenrat nimmt Innovationen ins Visier

Berlin – Das deutsche Gesundheitssystem ist nach Einschätzung des beim Kanzleramt angesiedelten Expertenrats „Gesundheit und Resilienz“ nicht gut auf zukünftige Krisen vorbereitet. Es werde im Vergleich zu anderen Ländern extrem viel in die Gesundheitsversorgung investiert, ohne dass die Gesundheit der Menschen entsprechend besser werde, erklärt das Gremium heute in einer Stellungnahme.
Hinzu käme, dass Deutschland sich in einer demografisch herausfordernden Situation befinde, da die Bevölkerung stark altere. Gleichzeitig gingen rund 30 Prozent der Fachkräfte im Gesundheitssystem in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand. Zudem nähmen gesundheitliche Ungleichheiten zu.
Das Gesundheitssystem biete keine ausreichende Basis „für eine Vorbereitung auf krisenhafte Situationen, Störungen und Schocks“, schlussfolgert der Rat. Eine Veränderung des insgesamt „ineffizienten, qualitativ mäßigen Systems“ scheine unabdingbar.
Der Expertenrat aus 23 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen hat im März seine Arbeit aufgenommen. Das Gremium folgte auf den Coronaexpertenrat. Zu den Fachleuten gehören unter anderem die ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, und der Virologe Christian Drosten.
„Deutschland altert und es werden zukünftig immer mehr Menschen medizinische Versorgung brauchen. Zugleich gibt es immer weniger Fachkräfte und auch finanziell ist es gerade schwierig“, sagte Alena Buyx, Mitglied des Gremiums und Koordinatorin der Stellungnahme „Resilienz, Innovation und Teilhabe“. Wenn weiterhin alle den Fortschritt in der Medizin genießen wollten, dann sollte man darüber nachdenken, wie man die vielen Mittel im Gesundheitswesen noch besser einsetzen könne.
Der Expertenrat nennt als Beispiel für kostenintensive Innovationen etwa Gentherapien, aber auch die derzeit viel diskutierten Abnehmspritzen wie etwa Ozempic und Wegowy. Verwiesen wird in dem zehnseitigen Bericht auf eine Berechnung des AOK-Bundesverbands, wonach die Erstattung der Abnehmspritzen die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) bis zu 45,8 Milliarden Euro kosten würde. „Auf Basis der gegenwärtigen Preisgestaltung würde das die Arzneimittelausgaben der GKV praktisch verdoppeln“, heißt es im Report.
Um das Gesundheitssystem effizienter und krisenfester zu machen, empfiehlt der Rat, das Verständnis von Innovation zu erweitern. Demnach dürfe es nicht nur darum gehen, neue Medikamente oder Diagnoseverfahren zu entwickeln, sondern auch bewusst Leistungen oder Maßnahmen wegzulassen, die keinen Mehrwert brächten.
Als Beispiele nennt der Rat unter anderem eine vorausschauende Versorgungsplanung oder auch die Umstellung des gegenwärtig pauschal für alle Frauen in einem bestimmten Altersbereich angebotenen Mammografiescreenings auf ein risikoadaptiertes Screening auf Basis einer Nutzen-Risiko-Abwägung.
Innovationen könnten zudem strukturelle Neuerungen oder Veränderungen sein. Dabei könne es sich etwa um neuartige Personalsteuerung oder eine veränderte Aufgabenverteilung handeln. Zum Beispiel werde seit längerem diskutiert, ob und welche nicht ärztlichen Berufsgruppen einzelne, bisher ärztliche Tätigkeiten übernehmen könnten, erläuterte der Charité-Vorstandsvorsitzende und Chef des Expertenrats, Heyo K. Kroemer. Auch die Umgestaltung der Krankenhausversorgung sei ein Beispiel.
Die Medizin habe gerade in den vergangenen Jahren große Fortschritte bei innovativen Therapien erreicht und biete neue Behandlungsmöglichkeiten für schwere Erkrankungen, sagte Kroemer. Das sei Ziel wissenschaftlicher Entwicklungen, zugleich aber auch sehr kostenintensiv.
Daher stellt sich Kroemer zufolge die Frage, wie künftige, oft teure Innovationen finanziert und gleichzeitig für alle betroffenen Patientengruppen bedarfsgerecht zur Verfügung gestellt werden können. „Wenn eine solche Entwicklung nicht mehr vollumfänglich finanziert werden kann, stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien Entscheidungen erfolgen“, sagte Kroemer. Im Expertenrat sei man der Meinung, „dass man diese absehbare Problematik jetzt diskutieren sollte“.
Im Bericht heißt es dazu, bisher würden Innovationen „ganz überwiegend nach ihrem individuellen (Zusatz-)Nutzen, etwa der gesundheitsbezogenen Verbesserung betrachtet“. Die jeweils pro Kopf einzusetzenden Kosten würden „hingegen erst nachrangig und auch nicht systematisch (im Sinne von akzeptablen Kosten pro Zusatznutzeneinheit) betrachtet“.
Es sei aktuell „rechtlich vorgegeben sowie gesellschaftlich akzeptiert und politischer Wille, dass Kosten-Nutzen-Analysen nicht für die Bewertung von Innovationen im Gesundheitssystem herangezogen werden“. Darüber hinaus werde die kollektive Ebene, die auch Fragen der Verteilung – also Verteilungsprinzipien und -gerechtigkeit – einbeziehe, bislang nicht hinreichend berücksichtigt, wodurch der Fokus auf das Individuum beschränkt sei.
Der Rat schlägt konkret vor, im Rahmen einer „multikriterialen Bewertung“ neben etablierten Analysen auch zu erfassen, welche bevölkerungs-, umwelt und verteilungsbezogenen sowie ethischen Implikationen eine Innovation haben kann.
Dabei sollte die bisherige Bewertung des Zusatznutzens beim einzelnen betroffenen Individuum systematisch um die Betrachtung der gegenüber der bisherigen Regelversorgung veränderten Kosten ergänzt werden.
Des Weiteren sollten die Auswirkungen der durch die Innovation möglichen oder ausgelösten Veränderungen auf die Krankheitslast der Bevölkerung und die systemweiten Gesamtausgaben betrachtet werden, ebenso wie Fragen des Zugangs und der Verteilungsgerechtigkeit relevanter und insbesondere vulnerabler Bevölkerungsgruppen.
Auch könnten der Beitrag zur Entfaltung des Innovationspotenzials durch individuelle Verantwortungsübernahme, etwa durch Verhaltensänderung ebenso wie durch kollektive Verantwortungsübernahme, etwa durch sozialstrukturelle Veränderungen oder Verhältnisprävention einbezogen werden, schlagen die Wissenschaftler vor.
Überdies sollte eine umfassende vergleichende Einschätzung zu Diskussionen über internationale Standards und Erfahrungen mit vergleichbaren Innovationen in anderen Gesundheitssystemen einer Innovationsentscheidung vorausgehen.
„Verschiedene Gesundheitssysteme, auch in Europa, haben in den letzten Jahrzehnten ähnliche multikriteriale Bewertungsverfahren in ihren Gesundheitssystemen eingeführt (etwa Schweden oder die Niederlande)“, heißt es weiter.
In Deutschland würde ein solches Verfahren neben verbesserter Transparenz und einem umfassenderen Verständnis der resilienzstärkenden Potenziale von Innovationen auch eine systematische Steuerung bei der Einführung künftiger Innovationen ermöglichen.
Das deutsche Gesundheitssystem habe international einen sehr hohen Standard, sagte Kroemer. „Damit hat man aber auch eine extreme Verantwortung, darüber nachzudenken, wie man das System für die zukünftigen Herausforderungen resilient gestalten kann.“
Es sei wichtig, dass Politik und Wissenschaft vorausschauend zusammenarbeiten und Zeiten ohne besondere gesundheitliche Herausforderungen, wie beispielsweise der Coronapandemie, dafür nutzen, sich auf mögliche Entwicklungen strukturell und grundlegend vorzubereiten.
Wissenschaftliche Politikberatung wie der Expertenrat sei dabei sehr hilfreich, sagte Kroemer. Der Rat könne außerhalb von Krisen Expertise aufbauen und während Krisen schnell reagieren und fundierte Empfehlungen anbieten.
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