Politik

Harte Einschnitte sollen nationale Gesundheitsnotlage verhindern

  • Mittwoch, 28. Oktober 2020
Michael Müller, Angela Merkel, Markus Söder /picture alliance, ASSOCIATED PRESS, Fabrizio Bensch
Michael Müller, Angela Merkel, Markus Söder /picture alliance, ASSOCIATED PRESS, Fabrizio Bensch

Berlin – Harte Einschnitte in der Coronapandemie sollen in Deutschland eine nationale Gesundheitsnotlage verhindern. Das hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) heute nach einem Beschluss mit den Ministerpräsidenten der Länder betont, der weitreichende bundesweite und vorübergehende Maßnahmen vorsieht.

Bund und Länder einigten sich heute auf massive Beschränkungen des öffentlichen Lebens ähnlich wie im Frühjahr. Die Maßnahmen sollen ab kommendem Montag (2. No­vember) bis Ende November gelten. Restaurants und Kneipen sollen wieder schließen, genauso wie Kosmetikstudios, Massa­gepraxen, Tattoo- und Fitnessstudios oder Kinos.

Für die von den temporären Schließungen erfassten Unternehmen, Betriebe, Selbststän­di­gen, Vereine und Einrichtungen will der Bund eine außerordentliche Wirtschaftshilfe gewähren. Der Erstattungsbetrag beträgt 75 Prozent des entsprechenden Umsatzes von November 2019 für Unternehmen mit bis zu 50 Mitarbeitern, womit die Fixkosten des Unternehmens pauschaliert werden.

Die Prozentsätze für größere Unternehmen werden nach Maßgabe der Obergrenzen der einschlägigen beihilferechtlichen Vorgaben ermittelt. Die Finanzhilfe wird ein Finanzvo­lumen von bis zu zehn Milliarden haben. Bisherige Überbrückungshilfen für die Betriebe werden verlängert. Die Konditionen für die am stärksten betroffenen Bereiche werden verbessert. Zudem wird der Schnellkredit der Kreditanstalt für Wiederaufbau für Beschäf­tigte mit weniger als zehn Beschäftigten angepasst.

Eine große Rolle spielt in dem Beschluss die Einschränkung der privaten Kontakte. In der Öffentlichkeit sollen sich demnach nur noch maximal zehn Menschen aus dem eigenen und einem zweiten Hausstand gemeinsam aufhalten dürfen. Veranstaltungen werden ge­stri­chen und Zuschauer in der Fußball-Bundesliga wieder verboten.

Besuche in Pflege- und Altenheimen sollten, so der Wunsch Merkels, unter Hygiene­auf­la­gen weiter ermöglicht werden. Für Bewohner, Beschäftigte und Besucher in Pflege- und Seniorenheimen sowie für Krankenhäuser wurden bereits Maßnahmen auf den Weg ge­bracht, darunter Schnelltests. Bei Gottesdiensten soll es keine Verschärfungen ge­ben. Geöffnet bleiben sollen Schulen, Kindergärten, der Groß- und Einzelhandel sowie Friseur­lä­den.

Bund und Länder appellierten in dem Beschluss an die Menschen, Heim­arbeit zu machen, wo immer möglich. Die Arbeitgeber müssen dafür sorgen, ihre Mitarbeiter vor Infektionen zu schützen. Jedes Unternehmen muss ein Hygienekonzept umsetzen.

Auch sollen die Bürger auf nicht notwendige private Rei­sen verzichten. Dazu gehören auch Besuche von Verwandten und tagestouristische Ausflüge. Die Menschen seien an­gehalten, „die Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der An­gehörigen des eigenen Hausstandes auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren“.

Merkel sprach davon, dass eine Kontaktreduzierung um 75 Prozent notwendig sei. Ziel sei es, die Nachverfolgung von Infektionen wieder notwendig zu machen und Infektionskett­en wieder unterbrechen zu können. Gruppen feiernder Menschen auf öffentlichen Plät­zen, in Wohnungen so­wie privaten Einrichtungen seien angesichts der ernsten Lage „in­akzeptabel“, heißt es darin.

Zum Handeln verpflichtet

„Wir sind verpflichtet, so rechtzeitig zu handeln, dass der Notstand nicht schon da ist“, sagte Merkel heute in Berlin. Sie verwies dabei unter anderem auf den deutlichen Anstieg der COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen. Notwendig sei es nun, die Zahlen nach unten zu drücken. Wenn die Zahl der Neuinfektionen im bisherigen Tempo weiter ansteigen würden, gerate die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems binnen Wochen an seine Grenzen, so die Kanzlerin.

Die Entwicklung sei inzwischen an einem Punkt, bei dem man bei 75 Prozent der Infek­tio­nen nicht mehr wisse, woher sie kämen, begründete Merkel. Man könne also nicht mehr sa­gen, dass bestimmte Bereiche nicht zur Ausbreitung beitrügen. Merkel begrüßte erarbei­tete Hygienekonzepte, die aber im Augenblick nicht mehr ausreichend Wirkung bei der Eindämmung entfalteten.

Die Kanzlerin kündigte an, dass Bund und Länder zwei Wochen nach dem Inkrafttreten der Beschränkungen die Auswirkungen bewerten wollen. All dies diene dem Ziel, im Dezember wieder unter Coronabedingungen das öffentliche Leben besser gestalten zu können – etwa so wie derzeit. Merkel bekräftigte zudem das Ziel, dass Kon­takte von Infizierten wieder generell nachverfolgt werden könnten.

Merkel erklärte darüber hinaus, dass es bei der letzten Runde vor zwei Wochen noch kei­ne Akzeptanz für so weitreichende Regeln gegeben habe. Die Lage sei nun eine andere. Alle Bundesländer würden die Beschlüsse mittragen, so Merkel. Sie merkte zugleich an, dass man vor Gerichten werde nachweisen müssen, dass Handlungsbedarf bestehe. Sie sieht aber Unterschiede etwa zum Beherbergungsverbot. Nun würden touristische Reisen generell unterbunden.

Die Kanzlerin ließ heute keine Zweifel an der Notwendigkeit der Beschlüsse. „Wir müssen han­deln, und zwar jetzt“, sagte sie. „Die Kurve muss wieder abflachen.“ Man brauche jetzt im November eine befristete „nationale Kraftanstrengung“. „Wir müssen Kontakte nach­ver­­folgen können“, sagte sie. Ansonsten käme man zu Kapazitätsengpässen bei den Tes­tungen und Arzneimitteln.

Auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) hält den geplanten bun­des­weiten Teillockdown zur Eindämmung der Pandemie für richtig und sachgerecht. „Das wird ein schwerer Weg, jetzt diese Beschlüsse umzusetzen“, sagte er. „Wir wissen alle, was das bedeutet, was das für Zumutungen und Einschränkungen für die Menschen sind.“

Aber: „Wenn wir jetzt zugucken, werden wir vielen Menschen nicht helfen können“, un­ters­trich Müller. In Berlin würden die Intensivbetten jetzt schon wieder mindestens ge­nauso stark genutzt wie zu Beginn der Pandemie – mit stark steigender Tendenz. „Das ist nichts Abstraktes mehr.“ Es gehe um die Gesundheit und um Menschenleben.

Aus Sicht Müllers ist es richtig und wichtig, Schulen und Kitas weiter offenzuhalten. In der ersten Phase der Pandemie habe sich gezeigt, dass Kita- und Schulschließungen dramatische soziale Folgen haben könnten. Wichtig sei ihm zudem, dass die Wirtschaft weiter unterstützt werde.

„Es sind harte Maßnahmen, aber es handelt sich um vier Wochen“, sagte Müller. Natürlich werde es Menschen geben, die sagen, das sei eine lange Zeit, womöglich eine zu lange Zeit. Aber die Hoffnung sei, dass es durch die Maßnahmen eine Chance gebe, die aktuelle dramatische Entwicklung der Pandemie zu entschärfen.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) bezeichnete den teilweisen Lockdown ab dem kommenden Montag als „bittere Pille“ für die Menschen. Es gehe aber um eine „Vier-Wochen-Therapie“, von der „wir hoffen, dass die Dosis richtig ist“, sagte er.

Bund und Länder hätten abgewogen und genau überlegt, welche Auswirkungen die be­schlossenen Regeln hätten. Klar sei aber auch, „je länger wir warten, desto schwieriger wird es“, sagte Söder. Als drohende Konsequenz könnten die Krankenhäuser wegen der überfüllten Intensivstationen am Ende vor der Entscheidung über Leben und Tod stehen.

Wenn sich jetzt alle gemeinsam an die Regeln hielten, dann gebe es eine gute Basis, dass es „keine Dauerschleife“ von immer wiederkehrenden Beschränkungen gebe, betonte Söder. Dies gebe Anlass für Optimismus.

Intensivmediziner besorgt, Warnung vor zu weitgehenden Maßnahmen

Im Vorfeld der Beschlüsse hatten die Intensiv- und Notfallmediziner in Deutschland die Sorge geäußert, bei weiter steigenden Infektionszahlen die intensivmedizinische Versor­gung bald nicht mehr in vollem Umfang gewährleisten zu können, sagte Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).

Mit einem YouTube-Video wendet er sich an die Bevölkerung. Darin bittet er darum, Kon­takte zu minimieren, größeren Veranstaltungen fernzubleiben und die Teilnahme an Fes­ten zu vermeiden. „Ohne Ihre Hilfe werden wir es nicht schaffen“, so Janssens. Abstand, Hygiene, Alltagsmasken, Lüften und die Nutzung der Corona-Warn-App würden helfen.

„Nur wenn wir alle an einem Strang ziehen, wird es uns gelingen, die Kurve der derzeit steigenden Infektionszahlen wieder flach zu halten“, ergänzte Janssens. Damit werde Druck aus den Krankenhäusern, insbesondere den Intensivstationen herausgenommen. Er spricht stellvertretend für mehr als 3.000 Intensivmediziner und Pflegekräfte. Sie dankten für jede Unterstützung.

Zugleich mahnten Ärztevertreter und Wissenschaftler heute im Vorfeld des Treffens Be­schlüsse mit Augenmaß an. Im weiteren Management der COVID-19-Pandemie sollten die bisherigen Evi­denz- und Erfahrungsgewinne berücksichtigt, ein breites Herunter­fah­ren des Alltagsle­bens ver­mieden und zugleich die Akzeptanz für zielgerichtete Maßnah­men zur SARS-CoV-2-Ein­dämmung gesteigert werden, heißt es in einem von Ärzten und Wissen­schaft­lern vorge­legt­en Positionspapier.

Ein „wochenlanges Koma“ der gesamten Gesell­schaft sei nicht zielführend und drohe bleibende Schäden für Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft anzurichten, warnte Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassen­ärztli­chen Bundesvereingung (KBV).

Die Maßnahmen will Bundeskanzlerin Merkel am Donnerstag auch im Bundestag bei einer Regierungserklärung erläutern.

may/dpa/afp

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