Politik

Kritik an Ausweitung von Vollmachten der Bundesregierung in der Coronakrise

  • Montag, 19. Oktober 2020
/picture alliance, Flashpic, Jens Krick
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Berlin – Vertreter von Koalition und Opposition im Bundestag haben sich heute erneut für mehr Ent­scheidungsgewalt für die Parlamente bei den Maßnahmen im Kampf gegen die Coronapandemie ausgesprochen.

Er sei es Leid, dass Bund-Länder-Runden die wesentlichen Entscheidungen träfen, sagte der SPD-Rechtsexperte Florian Post der Bild. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) warnte vor einer Beschädigung der Demokratie. Auch der Deutsche Richterbund sieht die derzeitigen Abläufe kritisch.

Viele aktuelle Beschränkungen des öffentlichen Lebens zur Eindämmung der Pandemie – etwa Maskenpflicht, Sperrstunden oder Beherbergungsverbote – gehen auf Verordnun­gen zurück. Diese werden in der Regel von den Landesregierungen erlassen, zum Teil auch auf Kommunalebene.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kann ebenfalls Verordnungen rund um die Pandemie erlassen. Im Bundestag oder in den Landtagen wird darüber hingegen nicht abgestimmt.

„Es ist die Aufgabe des Parlaments, wesentliche Entscheidungen zu treffen, und nicht die Aufgabe von Regierungsmitgliedern“, sagte der FDP-Politiker Kubicki im Bild-Talk „Die richtigen Fragen“. „Wenn wir als Parlament unsere Aufgabe jetzt nicht wahrnehmen, dann hat die Demokratie einen dauerhaften Schaden.“

Linksfraktionschefin Amira Mohamed Ali sagte im Radiosender SWR Aktuell: „Man kann sich nicht auf alle Zeiten auf eine Ausnahmesituation berufen, sondern jetzt muss auch entsprechend das Parlament beteiligt werden, denn es geht hier wirklich um Grund­rechts­eingriffe.“ Weitreichende Entscheidungen, die unmittelbar Einfluss auf das Leben der Menschen und ihre Bewegungsfreiheit hätten, müssten im Parlament getroffen wer­den.

Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagte der Augsburger Allgemeinen, es wer­de schon zu lange vor allem hinter verschlossenen Türen verhandelt. „Beratung, Abwä­gung, Entscheidung und Kontrolle gehören gerade in Krisenzeiten ins Parlament.“ Dies sei besonders wichtig für das Vertrauen der Bevölkerung in die politischen Entscheidun­gen.

Koalitionspolitiker sehen dies ähnlich. „Seit nunmehr fast einem Dreivierteljahr erlässt die Regierung in Bund, Ländern und Kommunen Verordnungen, die in einer noch nie da­gewesenen Art und Weise im Nachkriegsdeutschland die Freiheiten der Menschen be­schränken, ohne dass auch nur einmal ein gewähltes Parlament darüber abgestimmt hat“, sagte der SPD-Politiker Post der Bild.

Kritik an Ministerpräsidentenrunde

Er kritisierte speziell die Treffen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Mi­nis­terpräsidenten der Länder. Das Grundgesetz kenne keine Konferenz der Bundeskanz­lerin mit den Regierungschefs der Länder. Diese sei „nicht als gesetzgeberisches Organ vorgesehen“. Er sei dieses Vorgehen Leid, sagte Post.

Auch der Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann (CDU) sprach von einer „beunruhigen­den Entwicklung“. Das Parlament müsse „wieder selbstbewusster seine Rolle als Gesetz­geber einfordern und dann aber auch ausfüllen“, sagte Linnemann der Bild.

Der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbunds, Sven Rebehn, sagte dem Han­delsblatt, in der ersten Pandemiephase sei es vertretbar gewesen, „Freiheitsrechte durch Verordnungen der Exekutive einzuschränken“, um möglichst rasch auf akute Gefahren reagieren zu können. „Das darf aber nicht zum Dauerzustand werden.“

Der Normalfall im demokratischen Rechtsstaat sei, dass die Parlamente die wesentlichen grundrechtsrelevanten Entscheidungen selbst treffen, sagte Rebehn. „Auf dem weiteren Weg durch die Pandemie sollten der Bundestag und die Landtage wieder stärker ins Zentrum der Entscheidungen rücken.“

Mehr Augenmaß, besser erklären

Nachdem zuletzt immer wieder Gerichte politische Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie gekippt hatten, forderte auch Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) mehr Augenmaß bei Verboten.

„Bei allen Maßnahmen müssen wir stets darauf achten, dass sie gut begründet und für die Bürger nachvollziehbar sind“, sagte Lambrecht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Nur so können wir die hohe Zustimmung der Bevölkerung erhalten.“

Lambrecht sprach sich dafür aus, künftig wieder stärker das Parlament bei Entscheidun­gen miteinzubeziehen. „Zu Beginn der Pandemie war es erforderlich, sehr schnell und flexibel zu reagieren.“

Deshalb sei es in Ordnung gewesen, zu dieser Zeit befristete Maß­nahmen auf Grundlage von Verordnungen zu erlassen. „Aber wir müssen jetzt sehr sorg­fältig prüfen, für welche Maßnahmen auf längere Sicht das Parlament genauere gesetzli­che Vorgaben machen muss.“

In der kommenden Sitzungswoche des Bundestags, die am 26. Oktober beginnt, soll es eine Debatte über die Anti-Corona-Maßnahmen geben. Ein genaues Datum steht noch nicht fest.

Erst am vergangenen Freitag war bekannt geworden, dass das Bundesgesundheitsminis­terium (BMG) im Eilverfahren die Sonderrechte für das Ministerium über den 31. März 2021 hinaus verlängern und ausbauen will.

Die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes würde es Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ermöglichen, eigenmächtig Verordnungen zu erlassen, soweit dies „zum Schutz der Bevölkerung vor einer Gefährdung durch schwerwiegende übertragbare Krankheiten erforderlich ist“.

Die Sonder­rechte für den Gesundheitsminister für Verordnungen im Pandemiefall sind bislang be­fristet. Der vorliegende Entwurf aus dem Ministerium sieht nun vor, dass sie „verstetigt“ werden sollen. Der Koalitionspartner SPD kündigte bereits Widerstand gegen die Pläne an.

Auch die FDP übte scharfe Kritik. „Der Gesundheitsminister scheint die Lektion aus den jüngsten Gerichtsentscheidungen nicht verstanden zu haben“, sagte der stellvertretenden FDP-Fraktionsvorsitzende Ste­phan Thomae. Die hektische Rechtsetzung durch Bundes- und Länderregierungen habe sich nicht bewährt.

Thomae kritisierte, dass eine öffentliche parlamentarische Debatte nicht stattgefunden habe. „Minister und Staatsregierungen sind nicht die besseren Gesetzgeber“, betonte er. Der FDP-Politiker fügte hinzu: „Im Rausch der Befugnisermächtigungen fielen so manche berechtigten Interessen von Arbeitnehmern und Unternehmern, Eltern und Ehrenamtlern unter den Tisch der Ministerialbürokratie.“

afp/dpa

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