Merkel würdigt Arbeit der Pflegekräfte, Wissenschaftler mahnen Kontaktbeschränkungen an

Berlin – Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die Arbeit der Pflegekräfte in der Pandemie gewürdigt. Deren engagierter Einsatz habe mit dazu beigetragen, „die sehr belastende Situation für Kranke, pflegebedürftige Menschen, für Menschen mit Behinderung so gut, wie es ging, doch noch erträglich zu gestalten“, sagte Merkel heute zum Auftakt eines Treffens der Konzertierten Aktion Pflege in Berlin.
Die Konzertierte Aktion Pflege wurde im Sommer 2018 ins Leben gerufen. Ihr gehören neben mehreren Bundesministerien die Länder unter anderem Pflegeverbände, Pflege- und Krankenkassen, Betroffenenverbände und die Bundesagentur für Arbeit an.
Angesichts der steigenden Infektionszahlen bleibe der Schutz der Bevölkerung und insbesondere der Gruppen mit einem besonders hohen Risiko ein wichtiges Anliegen, betonte Merkel heute. Dies dürfe aber nicht dazu führen, dass Millionen von Menschen aus dem gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt würden.
„Das ist mir sehr, sehr wichtig“, so die Kanzlerin. In diesem Punkt werde sie nicht nachgeben. Das Ziel sei es, Kranke und Pflegebedürftige sowie Menschen mit Behinderungen bestmöglich zu schützen, ohne sie aus dem gesellschaftlichen Leben zu nehmen.
Hoffnung Schnelltests
Eine Hoffnung seien die Schnelltests. „Im Umgang mit den Schwächeren in unserer Gesellschaft zeigt sich um Grunde dann auch die Frage, wie ist diese Gesellschaft solidarisch, wie ist diese Gesellschaft menschlich“, so Merkel.
Das Pflegepersonal müsse dabei vor zu hoher Arbeitsbelastung geschützt und die Arbeitsbedingungen müssten noch verbessert werden. Merkel appellierte an alle Beteiligten in der Pflege, sich auch für neue digitale Konzepte und Angebote zu öffnen.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) verwies darauf, dass die Pflegekräfte für die Heimbewohner während des Lockdowns im Frühjahr oft der einzige Ansprechpartner gewesen seien.
Respekt für die Rolle der Pflegekräfte könne sich aber „nicht allein in Applaus und warmen Worten ausdrücken“. Heil forderte erneut einen einheitlichen Tarifvertrag für Pflegekräfte. Er werde sich weiterhin für eine bessere Entlohnung aller Pfleger einsetzen.
Der Deutsche Caritasverband erklärte, die Pandemie habe den „Handlungsdruck erhöht"“ Nötig sei eine umfassende Reform der Pflegeversicherung. Die von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) geplante Reform mit einer Deckelung des Kostenanteils, den Pflegebedürftige in Heimen zahlen sollen, gehe in die richtige Richtung. Bei der Finanzreform in der Pflege müssten aber auch die Bundesländer zur Finanzierung der Investitionskosten der Einrichtungen verpflichtet werden.
Lage angespannt
Angesichts der zugespitzten Coronalage verstärkte sich die Debatte über strenge, aber kurzzeitige Lockdowns. „Aktuell ist eine zunehmende Beschleunigung der Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten“, heißt es im Lagebericht des RKI von gestern Abend. „Daher wird dringend appelliert, dass sich die gesamte Bevölkerung für den Infektionsschutz engagiert.“
Der Anstieg wird laut RKI insbesondere durch private Treffen und Feiern sowie Gruppenveranstaltungen verursacht. Die Gesundheitsämter meldeten nach Angaben des Robert Koch-Instituts vom frühen Dienstagmorgen 11.409 Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 binnen eines Tages. Am Dienstag vor einer Woche lag die Zahl noch bei 6.868.
Deutschland habe es mit einem exponentiellen Wachstum zu tun, sagte Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) bei einem Deutsch-Französischen Wirtschaftstag. Die Zahl der Neuinfektionen steige jeden Tag um rund 70 bis 75 Prozent im Vergleich zur Vorwoche. „Und das bedeutet: Wir werden wahrscheinlich schon Ende dieser Woche 20.000 Neuinfektionen am Tag haben.“
Merkel betonte, heute wisse man etwas mehr über das Virus als im Frühjahr. „Wir wissen, wie wir uns schützen können. Wir können zielgerichteter vorgehen. Aber wir sehen auch bei den steigenden Zahlen, dass wenn wir das, was wir wissen über das Virus, nicht einhalten, dass wir dann wieder in Situationen kommen, die ausgesprochen schwierig sind.“
Vor diesem Hintergrund forderte Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) schnelle zusätzliche Maßnahmen. Der dramatische Anstieg in den vergangenen Tagen sei „sehr besorgniserregend“, sagte er. „Jetzt sind schnelle und entschlossene Schritte nötig, um diese neue Infektionswelle zu brechen.“
Diese sollten zielgerichtet und zeitlich befristet sein. „Und sie sollten deutschlandweit möglichst einheitlich getroffen werden und allgemein verständlich sein“, sagte der Finanzminister. In diesen Wochen entscheide sich, ob Deutschland weiter vergleichsweise gut durch die Pandemie komme. „Wir haben es selbst in der Hand“, betonte Scholz.
Wellenbrecher-Shutdown
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warb für eine befristete Schließung zahlreicher Einrichtungen. „Wenn wir den Sonderweg Deutschlands retten wollen, auch besser durch die zweite Welle zu kommen, dann muss ein Wellenbrecher-Shutdown jetzt kommen“, sagte Lauterbach.
Es gehe um ein Konzept, „bei dem man über zwei Wochen hinweg mit Ankündigung – in der Regel mit einer Woche Vorlauf - bundesweit Einrichtungen schließt: Restaurants, Bars, Kneipen, alle Kulturstätten, Fitnessstudios, Vereine. Offen bleiben aber Schulen, Kitas und essenzielle Geschäfte.“ Private Treffen müssten auf ein absolutes Minimum reduziert werden. In Betrieben sollte so viel Homeoffice gemacht werden wie möglich.
Noch rigoroser fiel ein Vorstoß des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU, Thomas Strobl, aus. Er regte an, „dass wir auch einmal für eine Woche alles dicht machen, dass von Freitag bis Sonntag die Woche drauf gar nichts mehr geht“.
Auf die Frage, ob dies auch Schulen, Kitas und Geschäfte betreffen würde, sagte der baden-württembergische Innenminister dem Nachrichtenportal The Pioneer: „Alles heißt alles.“ Das bedeute auch Einschränkungen im Grenzverkehr. Damit könne man das Infektionsgeschehen zum Stillstand bringen. Der Vorteil dieser „sehr, sehr harten“ Lösung wäre die zeitliche Begrenzung. Strobl betonte, dann wären ein Weihnachtsgeschäft und eine gemeinsame Weihnachtszeit mit der Familie wieder möglich.
Viele rechnen mit dem Lockdown
In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presseagentur sagten 63 Prozent, dass sie einen Lockdown mit Schließungen von Geschäften, Restaurants oder Schulen erwarten. Nur 23 Prozent glauben nicht daran, 13 Prozent machten keine Angaben.
Einer weiteren Umfrage zufolge hält gut jeder zweite Deutsche die geltenden Auflagen zum Eindämmen der Pandemie für angemessen. 51 Prozent der Befragten sind im „Deutschlandtrend im ARD-Morgenmagazin“ dieser Ansicht. Das sind acht Prozentpunkte weniger als zu Monatsbeginn.
Für 32 Prozent gehen die aktuellen Einschränkungen nicht weit genug, ein Plus von fünf Punkten. 15 Prozent halten die Auflagen hingegen für zu weitgehend, das sind vier Prozentpunkte mehr als Anfang Oktober.
Wegen der angespannten Coronalage beraten die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder bereits morgen in einer Videokonferenz über das weitere Vorgehen. Es gehe darum, was Bund und Länder gemeinsam tun könnten, um möglichst schnell den Trend zu brechen, hatte Regierungssprecher Steffen Seibert gestern gesagt. Dabei zähle jeder Tag.
Das Kanzleramt will nach Bild-Informationen bei der Bund-Länder-Runde für weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens werben. Im Gegensatz zum Lockdown im Frühjahr sollten Schulen und Kitas jedoch weiter geöffnet bleiben, außer in Regionen mit katastrophal hohen Infektionszahlen.
Appell der Wissenschaft: Kontakte auf ein Viertel reduzieren
In einem gemeinsamen Appell an Regierung und Bevölkerung riefen Wissenschaftsorganisationen heute zu weiteren deutlichen Kontaktbeschränkungen auf.
Kontakte ohne Vorsichtsmaßnahmen, also vorrangig Kontakte im privaten Umfeld, sollten bundesweit und schnellstmöglich auf ein Viertel reduziert werden, so die Forderung der sechs führenden deutschen Wissenschaftsorganisationen. Die Fallzahlen müssten reduziert werden, bevor die Bettenauslastung in den Kliniken kritisch werde.
Je früher diese weitere Kontaktbeschränkung geschehe, desto kürzer dauere diese Einschränkung an und desto weniger psychische, soziale und wirtschaftliche Schäden entstünden daraus, schreiben die Wissenschaftler in ihrer Erklärung.
Ziel sei es, die Fallzahlen so weit zu senken, dass die Gesundheitsämter die Kontaktnachverfolgung wieder vollständig durchführen könnten. Aktuell könne die Ausbreitung des Virus in vielen Regionen von den Gesundheitsämtern aus Kapazitätsgründen nicht mehr adäquat nachverfolgt werden.
Sobald eine Nachverfolgung durch die Gesundheitsämter wieder erfolgreich gelinge, könnten die Beschränkungen vorsichtig gelockert werden, ohne dass unmittelbar eine erneute Pandemiewelle drohe, so die Einschätzung der Wissenschaftler. Dies müsse aber jetzt bereits vorbereitet werden.
Nach etwa drei Wochen deutlicher Reduktion von Kontakten ohne Vorsichtsmaßnahmen sei es daher entscheidend, die bekannten Infektionsschutzmaßnahmen – Abstand, Hygiene, Alltagsmasken und Lüften – bundesweit einheitlich und konsequent durchzusetzen, um die erreichte niedrige Fallzahl zu halten.
Dabei sollten aus Sicht der Wissenschaftsorganisationen über den ganzen Winter hinweg Risikogruppen durch gezielte Maßnahmen konsequent geschützt, die Kommunikation der Vorsichtsmaßnahmen verbessert und die Hygienekonzepte geschärft und stärker kontrolliert werden. Unter anderem sprechen die Wissenschaftler sich für ein konsequentes Tragen von Masken auch in Schulen aus.
Der Appell wurde unterzeichnet von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.
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