Rettungsdienstsystem: Björn Steiger Stiftung erhebt Verfassungsbeschwerde

Berlin/Karlsruhe – Nach Ansicht der Björn Steiger Stiftung wird das deutsche Rettungsdienstsystem seinem Auftrag nicht gerecht. Es sei im internationalen Vergleich schlecht aufgestellt und koste Menschenleben. Die im baden-württembergischen Winnenden ansässige Stiftung hat deshalb heute beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland und exemplarisch für alle Bundesländer gegen das Land Baden-Württemberg erhoben.
Auslöser und Gegenstand der jetzt offiziell eingereichten Beschwerde war die Neuregelung des baden-württembergischen Rettungsdienstgesetzes, das der Landtag im Juli 2024 verabschiedet hatte und das Anfang August 2024 in Kraft trat. Ausdrücklich richtet sich die Beschwerde gegen das System und nicht gegen die Rettungskräfte, die selbst Benachteiligte des Systems seien.
„Seit Jahren bemängeln wir, dass das Rettungswesen in Deutschland deutlich hinter den internationalen Standards zurückbleibt“, sagte heute Pierre-Enric Steiger, Präsident der Björn Steiger Stiftung, in Berlin. Systembedingt würden täglich Menschen sterben, obwohl dies vermeidbar wäre. Wann und welche Hilfeleistung Bürgerinnen und Bürger im Notfall tatsächlich erhielten, hänge immer noch vom Standort ab.
Inhaltlich hat die Beschwerde zwei Kernpunkte: Erstens kommt nach Ansicht der Stiftung der Bund seiner Aufgabe, die Notfallversorgung der Bevölkerung sicherzustellen, nur unzureichend nach, indem er kein durchgängig funktionierendes und flächendeckendes Rettungsdienstsystem mit bundesweit vergleichbaren Qualitätsstandards zur Verfügung stellt. Der Bundesgesetzgeber vernachlässige seine grundrechtliche Schutzpflicht.
Zweitens sieht die Stiftung durch das neue baden-württembergische Rettungsdienstgesetz das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzt. Es fördere fehlerhafte Vorgaben und veraltete Organisationsstrukturen. Zuständigkeiten und Strukturen im Notfall seien nicht umfassend geklärt, entsprächen nicht internationalen Standards und verringerten die Überlebenschancen lebensbedrohlich Erkrankter in Baden-Württemberg.
Aus medizinischer Sicht sei es „inakzeptabel“, dass der Bund seiner Verpflichtung, einen einheitlichen Rettungsstandard vorzugeben, immer noch nicht nachkomme, betonte heute Frank Ulrich Montgomery, Ehrenpräsident der Bundesärztekammer (BÄK) und Mitglied des Präsidialrats der Björn Steiger Stiftung.
Es gebe mehr als 200 unterschiedliche Leitstellensysteme. „Für das Krankenhaus und den ärztlichen Bereich gibt es einheitliche Vorgaben, für das Rettungswesen nicht. Es kann nicht sein, dass Menschen je nach Wohnort unterschiedliche Überlebenschancen haben“, so Montgomery. Auch angesichts einer wachsenden globalen Bedrohungslage werde die Notwendigkeit eines einheitlichen, effizienten und qualitätsgesicherten Rettungsdienstes immer wichtiger.
Auch aus juristischer Sicht ist die Björn Steiger Stiftung der Meinung, dass es zwingend einheitliche Regelungen für Leistungen in der Notfallrettung geben müsse, da der Bund die medizinische Infrastruktur einschließlich der Notfallrettung über die Sozialversicherung finanziere und damit eine Garantenstellung für die Notfallrettung übernommen habe.
„Wer Leistungen zahlt, muss sich auch darum kümmern, was die Menschen dafür bekommen. Diese Garantenstellung erstreckt sich auf die Qualität der Notfallrettung“, erklärte Wolfgang Spoerr, Rechtsanwalt und Honorarprofessor der Juristischen Fakultät an der Humboldt-Universität Berlin. Qualitätsmaßstab sei nach den Grundrechten der Lebensschutz und der sozialrechtliche Grundsatz: gleiche Beiträge, gleiche Leistungen.
Dass das „Notfall-Gesetz“ der Ampelkoalition durch den Bruch der Koalition scheiterte und dem Diskontinuitätsprinzip anheimfiel, bedauert die Stiftung.
Zur Erinnerung: Geplant waren eine bessere Patientensteuerung, mehr telemedizinische Angebote und ein Ausbau der Versorgungsangebote. Die Notrufnummern 116117 und 112 sollten in einer gemeinsamen Terminservicestelle zusammenlaufen und ein standardisiertes Ersteinschätzungsverfahren sollte Behandlungsdringlichkeiten erkennen und Behandlungsmöglichkeiten vermitteln.
Aus Sicht der Stiftung könne man die Eckpunkte des Gesetzes eins zu eins übernehmen und sogar noch weiterentwickeln, sagte Christof Constantin Chwojka, Geschäftsführer der Björn Steiger Stiftung, auf Nachfrage des Deutschen Ärzteblattes. „Der Gesetzentwurf ist eine gute Basis für das, was künftig kommen muss.“
Steiger betonte, dass die Stiftung seit mehr als 55 Jahren für die Rechte von Notfallpatienten kämpfe. Angesichts des politischen Stillstands, der schon mehr als zehn Jahre anhalte, habe man eine umfassende wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben, geleitet von dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio. Daraus resultiere, dass die Forderung nach einer Reform nicht nur medizinisch, sondern auch verfassungsrechtlich zwingend notwendig sei. „Unsere Verfassungsbeschwerde ist nicht nur ein juristisches Mittel – sie ist ein Weckruf an die gesamte Bundesrepublik“, so Steiger heute.
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