Widerspruchsregelung bei der Organspende: Interfraktionelle Gruppe stellt neuen Gesetzentwurf vor

Berlin – Eine erneute parlamentarische Debatte über die Regelung der Organspende in Deutschland ist gestartet. Bundestagsabgeordnete von SPD (Sabine Dittmar), CDU (Gitta Connemann), CSU (Peter Aumer), Grünen (Armin Grau), FDP (Christoph Hoffmann) und Linken (Petra Sitte) stellten heute in Berlin einen fraktionsübergreifenden Gruppenantrag zur Einführung einer Widerspruchsregelung bei der Organspende vor. Dieser soll jetzt in den Fraktionen diskutiert und noch in diesem Jahr im Parlament sowie bei Expertenanhörungen debattiert und abgestimmt werden.
Das Gesetzgebungsverfahren soll idealerweise im Frühjahr 2025 zu einem Gesetzesbeschluss führen, so dass mit einer Übergangszeit von zwei, drei Jahren 2027 oder 2028 in Deutschland die Umstellung auf die Widerspruchsregelung erfolgen könne, so die Initiatorinnen und Initiatoren heute. Möglicherweise sei auch noch ein weiterer Vorschlag zu dem Thema aus den Reihen des Parlaments zu erwarten.
„Wir sind schlicht und ergreifend nicht zufrieden mit den stagnierenden Organspendezahlen in Deutschland“, sagte Sabine Dittmar (SPD), eine der Initiatorinnen des heute vorgestellten Gruppenantrags. Die meisten bisher beschlossenen gesetzlichen Maßnahmen zur Steigerung der Spendezahlen seien umgesetzt: Transplantationsbeauftragte erhielten eine Freistellung, Krankenhäuser würden zusätzlich für ihre Leistung bei der Organspende vergütet und auch die Maßnahmen zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft der Menschen seien mittlerweile weitgehend umgesetzt.
Etwa eine Million Beratungen jährlich würden durch Hausärztinnen und Hausärzte in Bezug auf die Organspende abgerechnet, seit März sei auch das digitale Organspenderegister in Betrieb. Dennoch warteten 8.000 kranke Menschen auf der Warteliste für eine Organspende oft jahrelang, viele von ihnen vergeblich. „Aufgrund der anhaltend niedrigen Spendezahlen haben wir uns zu einem erneuten Anlauf entschlossen“, sagte sie.
„Täglich sterben drei Menschen auf der Warteliste“, verdeutlichte Mitinitiatorin Gitta Connemann (CDU). „Diese Zahlen sehen in Gesichtern ganz anders aus.“ Als Schirmherrin des Vereins „Organtransplantierte Ostfriesland“ habe sie mehr mit Verzweiflung als mit Hoffnung zu tun. Eine gesetzlich verankerte Widerspruchsregelung würde die Zahl der Spenderorgane erhöhen und könnte viele Menschenleben retten, ist sie überzeugt.
Diskrepanz zwischen Bereitschaft und Spendezahlen
Connemann wies auf die große Diskrepanz zwischen der grundsätzlichen Bereitschaft zur Organspende und der tatsächlich vollzogenen Organspenden hin: „Das ist so verzweifelnd, weil wir aus Umfragen wissen, dass 84 Prozent der Menschen in diesem Land einer Organspende positiv gegenüberstehen, aber nur gut 40 Prozent dokumentieren diese Entscheidung.“ Die aktive Dokumentation der eigenen Entscheidung zur Organspende könne aber von mündigen Menschen erwartet werden, meinte sie. „Die Widerspruchslösung ist sicher kein Allheilmittel, aber ein entscheidender Baustein für einen Mentalitätswechsel.“
„Wir schöpfen die Spendenmöglichkeiten in Deutschland nicht aus“, sagte auch der Grünen-Politiker und Neurologe Armin Grau. Die derzeitige Rechtslage bringe Angehörige oft in schwierige Situationen. Häufig seien sie mit der Entscheidung bezüglich Organspende überfordert und würden sich im Zweifelsfall dagegen entscheiden, sagte der Arzt heute. Der Deutsche Ärztetag habe sich auch bereits wiederholt für die Widerspruchslösung ausgesprochen, betonte er. Nun wolle man gesellschaftlich eine erneute Debatte anstoßen. „Die Bürgerinnen und Bürger können jederzeit von ihrem Recht auf Widerspruch Gebrauch machen“, sagte der FDP-Abgeordnete Christoph Hoffmann, der 2020 noch gegen eine Widerspruchsregelung gestimmt hatte, wie er einräumte. Notwendig sei jedoch eine klare Regelung, um eine Trendwende zu erreichen.
„Es gibt Länder, die Organspende einfach besser organisieren. Bei vielen ist die Widerspruchsregelung ein entscheidender Bestandteil“, erläuterte heute die Ärztin Tina Rudolph (SPD) im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt. Die Widerspruchsregelung führe dazu, über das Thema Organspende in der Gesellschaft anders zu diskutieren. „Sie führt aber auch unmittelbar zu mehr Spenden, weil eben die Prozesse anders organisiert sind.“ Die Zustimmung zur Organspende in der Bevölkerung sei in Deutschland sehr hoch, aber trotzdem werde bislang bei einigen potenziellen Organspendern keine Spende realisiert, einfach weil keine explizite Zustimmung vorliegt. „Das wollen wir mit der Umkehr der Beweislast ändern“, sagte die Ärztin, die ebenfalls zu den Unterzeichnenden des Gruppenantrags gehört.
„Allen sollte bewusst sein: Wir können selbst in die Situation kommen, dass wir ein Spenderorgan benötigen. Und die meisten möchten dann auch gern ein Spenderorgan“, so Rudolph. Es sollte sehr zu denken geben, dass Deutschland eines der wenigen Länder im Eurotransplant-Verbund sei, das nicht die Widerspruchsregelung praktiziere.
„Wir haben so niedrige Organspendezahlen, dass wir auf die Transplantationsbereitschaft der anderen Länder angewiesen sind. Im Notfall würden wohl die meisten Menschen in Deutschland diese auch annehmen, ohne sich selbst der Entscheidung zur Organspende zu stellen. Deshalb sehe ich hier die moralische Verpflichtung des Einzelnen, sich fünf Minuten mit der Frage der möglichen Organspende im Falle eines Hirntods auseinanderzusetzen“, sagte Rudolph.
Derzeit gilt in Deutschland die Entscheidungslösung, der zufolge nur Menschen Organspendender sind, die zu Lebzeiten explizit eingewilligt haben. Für diese gesetzliche Regelung, die unter anderem durch die heutige Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ins Parlament eingebracht wurde, hatte sich 2020 der Deutsche Bundestag ausgesprochen. Ein vom heutigen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und vom damaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) unterstützter Antrag, der eine Widerspruchslösung vorsah, fand damals keine Mehrheit. Beide gehören auch jetzt zu den Unterzeichnern des neuen Gruppenantrags. Baerbock dagegen lehnte diesen bereits ab: Stillschweigen dürfe nicht zur automatischen Freigabe von Organen führen, sagte sie.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) begrüßte indes heute den Antrag, den er als Abgeordneter mitunterzeichnet hat. „Wir müssen uns ehrlich machen: Ohne dass wir allen zumuten, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, werden die Organspendezahlen nicht signifikant steigen“, sagte er. Wer das „Sterben auf der Warteliste“ beenden wolle, sollte die Bundestagsinitiative unterstützen. „Jeder, der nicht spenden will, kann sich einfach in das neue digitale Spendenregister eintragen. Aus dem Spendenregister würde so ein Nichtspenderregister. Eine digitale Opt-Out-Lösung für Organspende.“
Auch der Patientenbeauftragte Stefan Schwartze ist Mitunterzeichner des heute vorgestellten Gesetzesentwurfs zur Einführung einer Widerspruchsregelung. In vielen europäischen Ländern, die bereits die Widerspruchslösung eingeführt hätten, sei ein deutlicher Anstieg der Spendezahlen zu sehen, betonte er. Insgesamt solle die neue Regelung zu einer Entlastung für die nächsten Angehörigen sowie auch zu einer Entlastung für Ärztinnen und Ärzten führen. „Mit der Widerspruchsregelung möchten wir mehr Menschen die Chance auf ein neues Leben geben. Ich werde mich aktiv dafür einsetzen, dass dieser Systemwandel zugunsten aller Patientinnen und Patienten auf den Wartelisten umgesetzt wird.“
Um die Freiwilligkeit der Organspende zu gewährleisten, sieht der Gesetzesentwurf umfassende Informationskampagnen durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) vor. Es sollen bei den Informationsschreiben und der allgemeinen Aufklärung Aspekte der Inklusivität, wie durch „leichte Sprache“ oder Informationen in anderen Sprachen, berücksichtigt werden. Zudem sollen die Verfahren zur Registrierung eines Widerspruchs einfach und barrierefrei gestaltet werden. Außerdem soll eine zusätzliche Sicherstellung durch Einbeziehung der nächsten Angehörigen erfolgen, dass kein Widerspruch zu Lebzeiten vorlag.
Bei Minderjährigen oder den nichteinwilligungsfähigen Personen werden differenzierte Regelungen getroffen. Bei Minderjährigen, die keine Erklärung zur Organ- und Gewebespende abgegeben haben, ist der mögliche Organ- oder Gewebespender dem Entwurf zufolge nur zulässig, wenn eine Ärztin oder ein Arzt den nächsten Angehörigen über eine in Frage kommende Organ- oder Gewebeentnahme unterrichtet hat und dieser ihr zugestimmt hat. Bei Personen, die über einen längeren Zeitraum nicht einwilligungsfähig sind, soll die Widerspruchslösung keine Anwendung finden.
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