Ärzte und Psychotherapeuten wichtige Ansprechpartner bei Extremismusprävention

Berlin – Extremistische Einstellungen sind in der Allgemeinbevölkerung verbreitet, und sie nehmen zu. Patienten mit rechtsextremen, islamistischen, linksextremen oder verschwörungstheoretischen Einstellungen kommen auch in der heilberuflichen Praxis an und ihre Ansichten können vor allem im psychiatrischen und psychotherapeutischen Kontext konflikthaft werden.
Ein Forschungsprojekt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm hatte zum Ziel, Angehörige von Heilberufen über ihre Rolle im Zusammenhang mit extremistischen Einstellungen zu informieren und ihnen Handlungsmöglichkeiten im Rahmen von Krankenbehandlung und Therapie zu vermitteln. Die Ergebnisse des dreijährigen Projekts, dessen Laufzeit auf das Jahresende begrenzt ist, wurden gestern bei einer Fachtagung in Berlin vorgestellt.
„In der Extremismusprävention gelten die Heilberufe als niedrigschwellige Ansprechpartner für betroffene Patienten“, erklärte Marc Allroggen, leitender Oberarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie in Ulm und einer der Projektleiter. „Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und -therapeuten können die Resilienz bei den betroffenen Patienten fördern, und problematische Entwicklungsverläufe auf dem Boden einer vertrauensvollen Beziehung aktiv ansprechen.“
„Es ist wichtig, Fachkräfte für Radikalisierungsprozesse zu sensibilisieren. Extremisten bewegen sich häufig unterhalb des Sicherheitsbehördlichen Radars. Sie gehen aber zu Ärzten, Psychotherapeuten oder in die Schule“, sagte Ministerialdirigent Schultz, Leiter der Unterabteilung Öffentliche Sicherheit im Bundesministerium des Inneren und für Heimat. Er wies auf eine „hohe Gefährdungslage“ für islamistischen Terror hin. Häufig seien dies „alleinhandelnde Täter, die irrational handeln“. Aber auch rechtsextremistische Gewalttaten seien nicht zu unterschätzen.
Generell lasse sich keine erhöhte Rate von psychischen Erkrankungen bei radikalisierten Personen oder Befürworten extremistischer Einstellungen feststellen, sagte Allroggen. Es gebe aber Hinweise auf ein häufiges Vorliegen von belastenden Kindheitserfahrungen und pathologischen Persönlichkeitsmerkmalen. Radikalisierungsprozesse könnten im Einzelfall als dysfunktionale Bewältigungsprozesse verstanden werden. Bei Einzeltätern von Anschlägen allerdings zeige sich eine erhöhte Rate von psychischen Erkrankungen.
Psychiater und Psychotherapeuten, die von extremistischen Einstellungen bei ihren Patienten erfahren, könnten diese bei der Einordnung von extremistischen Narrativen unterstützen, indem sie gemeinsam Hintergründe für die Radikalisierung reflektieren. „Ziel der Therapie ist dabei primär die Behandlung der psychischen Erkrankung, nicht die Deradikalisierung,“ betonte Allroggen.
Ärzte und Psychotherapeuten, die Personen mit extremistischen Einstellungen behandeln, sollten sich mit Fachberatungsstellen vernetzen, so der Projektleiter. Dies sei auch wichtig, um sich zu beraten, wann man die Sicherheitsbehörden einschalten sollte. „Es besteht immer die Gefahr der Instrumentalisierung von Heilberufen für sicherheitsbehördliche Maßnahmen“, sagte Allroggen.
Hier gilt zur Schweigepflicht laut den „Handlungsempfehlungen Radikalisierungsprozesse“ vom Universitätsklinikum Ulm: Es gilt eine Mitteilungsbefugnis, falls sich in der Behandlung Hinweise auf eine akute Gefahr durch einen Patienten für sich selbst oder Dritte ergeben, notfalls auch gegen den Willen des Patienten.
Die für ein Eingreifen notwendigen Informationen können dann aufgrund eines sogenannten Rechtfertigenden Notstands gemäß Paragraf 34 StGB an die Sicherheitsbehörden weitergegeben werden. Eine Anzeigepflicht gilt demnach hingegen bei schwerwiegenden Gefahren für andere Personen gemäß Paragraf 138 StGB. Vergangene Taten rechtfertigen keinen Bruch der Schweigepflicht.
Im Rahmen des Forschungsprojekts ist auch eine interaktive Deutschlandkarte entwickelt worden, die bundesweite und länderspezifische Fachberatungsstellen verschiedener Träger zum Thema Extremismus auflistet.
Mit dem Projekt verbunden war eine E-Learning-Fortbildung für Angehörige der Heilberufe, die rund 3.000 Ärzte und Psychotherapeuten noch bis Ende des Jahres absolvieren. „Als Motivation für diese Fortbildung geben 66 % der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an, Patienten mit extremistischen Einstellungen behandelt zu haben oder zu behandeln und sich unsicher im Umgang mit ihnen zu fühlen“, berichtete Thea Rau, Leiterin der Arbeitsgruppe „Gewalt, Entwicklungspsychopathologie und Forensik“ am Universitätsklinikum Ulm und zusammen mit Allroggen Projektleiterin. „Davon hatten die meisten mit rechtsextremistischen Patienten zu tun.“ Den höchsten Wissensbedarf habe es zum Thema Schweigepflicht gegeben.
Von den 3.000 Teilnehmenden sind der Wissenschaftlerin zufolge 2.215 Psychotherapeuten einschließlich Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, 155 Ärzte sowie 528 sonstige Angehörige der Heilberufe. Die Rückmeldungen seien zu 95 % positiv gewesen.
Für die aktuelle Fortbildung könne man sich nicht mehr anmelden, und ob das vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geförderte Fortbildungsprojekt im nächsten Jahr weitergeführt werden kann, sei angesichts der unklaren Haushaltslage der Bundesregierung noch unklar, berichtete Rau.
„Es ist für uns sehr wichtig, Netzwerke mit Ärzten und Psychotherapeuten aufzubauen, weil es extrem schwierig ist, Radikalisierungsprozesse zu erkennen“, sagte Florian Endres, Leiter der Beratungsstelle Radikalisierungsprävention beim BAMF. „Wir sehen die Heilberufe als wesentlichen Partner.“ Das BAMF unterhält seit 2012 ein Kompetenzzentrum für Islamismusprävention.
Darüber hinaus wolle man auch Personen, die sich im Ausstiegsprozess aus extremistischen Zusammenhängen befinden, in eine psychotherapeutische Behandlung vermitteln. Psychiater Allroggen zufolge weisen Aussteiger eine hohe Rate an psychischen Erkrankungen auf.
Diese Aufgabe übernimmt beispielsweise „Nexus“, ein psychotherapeutisch-psychiatrisches Beratungsnetzwerk unter der Trägerschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin, das auch vom BAMF gefördert wird.
„Beratungsstellen nehmen Kontakt zu uns auf, um eine Einschätzung zum Behandlungsbedarf der ausstiegswilligen Person zu bekommen“, erklärte die Psychotherapeutin Kerstin Sischka, eine der Leiterinnen des Projekts bei der Fachtagung. Nexus aktiviere dann bundesweit qualifizierte Psychotherapeuten, die die Person beim Ausstieg aus dem extremistischen Zusammenhang begleiten können.
Auch der Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) befasst sich mit dem Thema Extremismusprävention. Unter anderem in einem Symposium mit dem Titel „Extremistische Entwicklungen – interdisziplinäre Zugänge zu einer sich radikalisierenden Gesellschaft“, am 29.November. Der Kongress findet vom 27. bis 30. November in Berlin statt.
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