Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs wollen Entschädigung von katholischer Kirche

Berlin – 15 Jahre nach Bekanntwerden der Fälle von sexueller Gewalt von Lehrern des Berliner Jesuitengymnasium Canisius-Kolleg an Schülern habe sich vieles bewegt, doch insbesondere in der katholischen Kirche sei der Aufarbeitungsprozess für die Betroffenen nicht zufriedenstellend. Darauf wiesen der ehemalige Rektor der Schule, Pater Klaus Mertes, und Vertretende von Betroffeneninitiativen heute in einer Pressekonferenz in Berlin hin.
Im Januar 2010 entschied sich Pater Mertes die von Schülern des Canisius-Kollegs an ihn herangetragenen Missbrauchsvorwürfe gegen zwei Lehrer in den 1970er-Jahren öffentlich zu machen und sich bei den betroffenen Schülerjahrgängen brieflich zu entschuldigen.
Die Berliner Morgenpost veröffentlichte diese Briefe am 29. Januar 2010, was Mertes rückblickend als „Beginn eines historischen Prozesses der Öffnung zum Thema des sexuellen Machtmissbrauchs in Kirche und Gesellschaft, der bis heute anhält“ bezeichnete.
Als ein Grund für die enorme Wirkung dieser Briefe sieht der Pater den Wegfall der Einzelfallperspektive: ein Lehrer habe bis zu hundert Schüler sexuell missbraucht. „Das Wissen über den strukturellen Missbrauch ermöglichte ein Sprechen darüber, wie es vor 2010 nicht denkbar war“, sagte Mertes.
Für Schülerinnen und Schüler sei es am 29. Januar 2010 ein Schock gewesen, ihre Schule als „Schule des Grauens“ in der Zeitung betitelt zu sehen. Sie erfuhren, dass wer in einer Institution Missbrauch aufklären will, bereit sein muss, den Preis der Stigmatisierung zu zahlen. „Die Jugendlichen stellten sich eindeutig hinter diesen Kurs und nahmen das Stigma auf sich, und damit dann auch die Eltern und das Lehrerkollegium“, berichtete Mertes. Diese Haltung der Jugendlichen habe Spaltungsprozesse verhindert.
„Den meisten Verantwortlichen der katholischen Kirche fällt es auch nach 15 Jahren noch schwer, Betroffenen von sexueller Gewalt Glauben zu schenken“, betonte Astrid Mayer, Mitglied des Aktionsbündnis der Betroffeneninitiativen im Kontext katholische Kirche.
Mindestens 114.000 betroffene Kinder und Jugendliche seien einer Dunkelfeldstudie zufolge „mächtigen Männern der katholischen Kirche“ ausgeliefert gewesen. „Die Scham muss die Seite wechseln, schämen sollten sich die Täter und nicht die Opfer“, forderte Mayer.
Seit 2010 sei durch den politischen und gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozess für die Betroffenen „viel Gutes passiert“. So seien beispielsweise die zivilrechtlichen Verjährungsfristen für sexuelle Gewalt auf 30 Jahre hochgesetzt worden. Die potenziell schwerwiegenden psychischen, physischen, finanziellen und sozialen Folgen für Betroffene und ihren weiteren Lebensverlauf seien bekannt beziehungsweise anerkannt geworden.
Die Bilanz nach 15 Jahren sei trotz allem „durchwachsen“. „Wir sehen uns immer noch einer Institution gegenüber, die die Begegnung mit uns nicht nur fürchtet, sondern als Machtkampf betrachtet“, sagte Mayer. Der ehemalige Missbrauchsbeauftragte der katholischen Kirche, Bischof Ackermann, habe allein neun Jahre gebraucht, bevor er sich mit Betroffenen getroffen habe.
„Statt die Chance zu ergreifen, das moralisch Richtige mit vollster Überzeugung zu tun und Betroffenen zur Seite zu stehen, steht bei der katholischen Kirche das Bedürfnis im Vordergrund sich zu entschulden“. Diözesen gehen der Betroffenenvertreterin zufolge der Aufklärung der Verbrechen ihrer Mitarbeiter gerne aus dem Weg, missachteten mit der Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) verabredete Standards, oder pochten auf Verjährung. Mayer sprach sich dafür aus, dass der Staat die Aufarbeitung sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der Kirche übernehmen sollte.
„Viele Betroffene sind von der Aufklärung desillusioniert, ausnahmslos alle, die sich an uns wenden, sind nicht zufrieden mit dem, was ihnen als Anerkennung des Leids von den Kirchen angeboten wurde“, berichtete Matthias Katsch, Geschäftsführer und Sprecher der Betroffenenorganisation Eckiger Tisch. „Wir wollten Entschädigung für das, was sich als systemisches Verbrechen herausgestellt hatte, stattdessen vermieden die Kirchen die Anerkennung des Leids und die Übernahme der Verantwortung oder besser der Schuld für den flüchtigen Umgang mit den Tätern.“
Als im Aufarbeitungsprozess anerkannt wurde, dass Schmerzensgeld nicht nur nach der Tat, sondern auch nach den Folgen der Tat bemessen werden sollte, sei das Verfahren durch die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UAK) eingeführt worden, berichtete Katsch. Für die Summen habe man sich an Gerichtsurteilen in vergleichbaren Verfahren orientieren wollen. Doch bis vergangenes Jahr habe es gar keine Entscheidungen von Gerichten gegeben.
„Das erste Verfahren war 2024 gegen das Erzbistum Köln, das mit 300.000 Euro für das Opfer geendet hat. Jetzt jedoch setzen weitere Bistümer das rechtliche Instrument der Verjährungseinrede ein, um solche Klagen zu torpedieren“, erklärte der Betroffenenvertreter. Seit Herbst 2024 sammle der Eckige Tisch deshalb Unterschriften, damit die Bischöfe aufhören, dieses Instrument einzusetzen, „weil es Unrecht ist“. Bisher konnten laut Katsch 80.000 Unterschriften gesammelt werden.
Einer vom Eckigen Tisch in Auftrag gegebenen Umfrage zufolge verurteilen 87 Prozent der Gesamtbevölkerung und 81 Prozent der Katholiken, dass Bischöfe sich auf das Instrument der Verjährungseinrede berufen. Die meisten Befragten sähen zudem den systemischen Zusammenhang des sexuellen Missbrauchs, im Gegensatz zur Einzeltäterschaft, und fordern die katholische Kirche auf, Verantwortung zu übernehmen.
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