Wunsch nach gesellschaftlichem Pakt gegen sexuelle Gewalt an Kindern

Berlin – Auf den Tag genau zehn Jahre ist es her, dass Fälle von sexuellem Missbrauch am Berliner Canisius-Kolleg, einer Schule des Jesuiten-Ordens, bekannt wurden und damit das Thema Kindesmissbrauch in die öffentliche Wahrnehmung katapultiert wurde.
Eine sehr kritische Bilanz der bisherigen Anstrengungen in Deutschland gegen sexuelle Gewalt an Kindern zog Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, heute vor der Presse in Berlin.
„Die Fallzahlen sind unverändert hoch. Allein die polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet jährlich mehr als 20.000 Fälle von sexuellem Missbrauch, sexuellem Mobbing, Cybergrooming oder Kinderpornografie. Missbrauchsabbildungen durchfluten mittlerweile in Terrabyte-Dimensionen das Netz,“ sagte Rörig.
Und weiter: „Ich bin immer wieder erschrocken darüber, mit welcher Gelassenheit sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche von Teilen der Gesellschaft hingenommen wird.“
Missbrauch muss „Megathema“ werden
Der Missbrauchsbeauftragte fordert sexuellen Kindesmissbrauch zu einem gesellschaftlichen „Megathema“ zu machen. „Sexuelle Gewalt kann nur dann wirkungsvoll bekämpft werden, wenn sich alle gesellschaftlichen Kräfte verbünden. Wir brauchen für Deutschland einen Pakt gegen Missbrauch“, forderte er.
Dieser Pakt brauche die uneingeschränkte Unterstützung von allen Bürgern, von Bund, Ländern und Kommunen, den politischen Parteien, der Zivilgesellschaft wie Kirchen, Wohlfahrt, Sport, aber auch des Gesundheitswesens oder der Internetwirtschaft.
Von „sehr großer Bedeutung“ sind nach Ansicht von Rörig auch Ärzte und Psychotherapeuten als wichtige Ansprechpartner für Betroffene und Angehörige. Sie seien häufig auch diejenigen, die Anzeichen für Missbrauch erkennen und dann entsprechend handeln sollten.
„Jede Praxis sollte ein Schutzort werden“, sagte Rörig zuletzt zusammen im Interview mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Stephan Hofmeister. Zur Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch kooperieren KBV und der Missbrauchsbeauftragte insbesondere bei der Unterstützung von Ärzten und Psychotherapeuten im Umgang mit Kinderschutzfällen.
Gesetzliche Meldepflichten gefordert
Der neue Nationale Rat, das von Bundesministerin Franziska Giffey und Rörig im Dezember 2019 einberufene Spitzengremium aus Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Praxis und Betroffenen, biete eine starke Plattform für diesen Pakt.
Der Missbrauchsbeauftragte widerholte seine Forderungen nach einer interdisziplinären Zusammenarbeit aller. Zudem müssten die Ermittlungsinstrumente besser werden. „Wir brauchen gesetzliche Meldepflichten für sexuellen Missbrauch im Internet“, forderte Rörig. Datenschutz dürfe zudem nicht über Kinderschutz stehen. „Die Täter im Netz müssen sich fürchten.“
Darüber hinaus forderte der Missbrauchsbeauftragte eine Stärkung der Beratungsstrukturen für Betroffene. „Die Versorgung mit Beratungsstellen ist keineswegs flächendeckend und die Finanzierung dieser Stellen ist nach wie vor prekär, sagte er.
Willen zur Aufklärung und Aufarbeitung fehlt
Auch der Sprecher der Betroffeneninitiative Eckiger Tisch, Matthias Katsch, zog eine negative Bilanz: „Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche wird immer noch nicht als zentrale gesellschaftliche Herausforderung für unser Land angenommen. Vielfach fehlt es am Willen zur Aufklärung und die Aufarbeitung fehlt“, sagte er heute.
Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche hätten in den vergangenen Jahren Aufklärung und Aufarbeitung über den Umgang ihrer Institutionen mit Verbrechen ihrer Mitarbeitenden vielfach verschleppt.
Erst jetzt fingen die Kirchen langsam an, sich ihrer Verantwortung zu stellen und unabhängige Aufarbeitungsprozesse zu initiieren. „Immer noch werden die Opfer eher stigmatisiert, als dass ihnen notwendige Hilfe und Unterstützung angeboten wird“, kritisierte Katsch.
Das Bewusstsein für die „Normalität“ von sexuellem Kindesmissbrauch sei in der Gesellschaft zwar gestiegen, aber man sei noch weit davon entfernt, diese Gewaltform in der kommenden Generation zu überwinden.“
Mit dem neuen Spot „Anrufen hilft!“ will Rörig auf das bundesweite Angebot des „Hilfetelefon Sexueller Missbrauch“ (0800/2255530) hinweisen und Menschen aktivieren, dort anzurufen, wenn sie sich Sorgen um ein Kind machen. Silke Noack, Leiterin des Hilfetelefons, sagte: „Es ist wichtig, dass Menschen sich trauen hinzuschauen.
Viele Menschen aus dem Umfeld von Kindern haben ein komisches Gefühl, wissen aber nicht, was sie machen sollen. Wir bieten Rat und Unterstützung an.“ Am Hilfetelefon arbeiten über 20 psychologisch und/oder pädagogisch ausgebildete Fachkräfte mit jahrelanger Erfahrung in der Beratung und Begleitung bei sexuellem Kindesmissbrauch.
Seit Beginn des Hilfetelefons in 2010 wurden mehr als 43.000 Beratungsgespräche geführt. Die Beratung erfolgt bundesweit, kostenfrei und anonym.
Den Spot „Anrufen hilft!“ drehte die Filmregisseurin Caroline Link, bekannt durch Filme wie „Nirgendwo in Afrika“ oder aktuell „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl", pro bono. Der 30-sekündige Spot, bei dem man es kaum aushält, den gezeigten Kindern in die Augen zu schauen, ist sehr bewegend.
„Zu erfahren, wie viele Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft unter sexuellem Missbrauch leiden, hat mich überrascht und schockiert. Wenn es uns mit dem Spot gelingt, Kindern in dieser beklemmenden Lebenssituation zu helfen, wäre ich sehr froh“, sagte Link.
Der Spot wird ab heute auf zahlreichen TV-Sendern, in Kinos, auf Social Media und auf der gleichnamigen Website zum Spot www.anrufen-hilft.de sichtbar sein. Ausgestrahlt wird der Spot überall pro bono.
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