Frauengesundheit: Weiterhin viel Nachholbedarf in Forschung und Gesellschaft

Berlin – Gender Data Gap, schambehaftete Menstruation, männlicher Normkörper: Dass beim Thema Frauengesundheit in Deutschland bislang zu wenig geschehen ist und mehr Potenzial für Forschung, Politik und gesellschaftliche Aufklärung besteht, darauf machten kürzlich zwei Veranstaltungen in Berlin aufmerksam. In Expertenrunden wurde über Probleme gesprochen und Lösungsansätze diskutiert.
„Eine Medizin, die immer noch vom männlichen Normkörper ausgeht, ist schädlich und nicht zureichend für alle“, sagte Kirsten Kappert-Gonther (Grüne), amtierende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses der Bundesregierung, beim Forum Frauengesundheit.
Wenn Lehre, Forschung und Versorgung von einem durchschnittlichen männlichen Körper ausgehen würden, sei dies höchst problematisch für Frauen, aber genauso für Männer, die keinen Normkörper hätten. Erkrankungen würden dadurch oft nicht adäquat oder viel zu spät diagnostiziert.
Die abwehrende Aussage „Jetzt müssen wir hier auch noch feministisch sein“, die Kappert-Gonther schon häufig gehört habe, sei daher grundlegend falsch. Vielmehr bedeute gendergerechte Medizin – und auch gendergerechte Gesundheitspolitik, dass jeder Mensch gleichermaßen gerecht behandelt und versorgt werden sollte. „Und davon profitieren de facto alle“, sagte sie.
Gender Data Gap
In der medizinischen Forschung gebe es große Lücken, was die Daten von Frauen angehe, merkte Gertraud Stadler, Professorin für geschlechtersensible Präventionsforschung und Leiterin des Teams Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité, in der Diskussionsrunde an.
Frauen würden in der Forschung häufig nicht mitgedacht, die Auswirkungen von Krankheiten und Medikamenten auf ihre Körper seien oft nicht hinreichend geklärt. Zudem sei die Forschungsförderung bei Frauenerkrankungen unterproportional, betonte Stadler.
„Die Wissenschaft scheut sich auch oft, den Zyklus mitzudenken, weil er den Ruf hat, kompliziert zu sein.“ Sicherlich sei der Zyklus komplex, doch brauche auch Deutschland ausreichend Daten dazu, um Forschung betreiben zu können, so Stadler. „Im Vergleich zu anderen Ländern liegen wir rund 30 Jahre zurück“, sagte sie.
Die Psychologin betonte, dass es sich lohnen würde, bei frauenspezifischen Erkrankungen genauer hinzuschauen. „Mit 60 Prozent ist die Krankheitslast bei Frauen in der Haupterwerbszeit am höchsten“. Würde man dies berücksichtigen und könnte spezifische Frauenerkrankungen adäquat behandeln, würde es auch zu weniger Arbeitsausfällen kommen, so Stadler.
Stigmatisierung der Regelblutung
Doch nicht nur in der Forschung, auch in der Gesellschaft würden viele frauenspezifische Themen, wie beispielsweise die Menstruationsblutung, wenig thematisiert oder gar tabuisiert, machte Kappert-Gonther deutlich.
„60 Prozent der Frauen empfinden es als unangenehm, über ihre Menstruation zu sprechen“, sagte sie. Jungen Mädchen sei es nach wie vor peinlich, wenn ihnen Periodenprodukte aus der Tasche fallen würden oder sie Freundinnen danach fragen müssten. Dies ist Kappert-Gonther zufolge ein bemerkenswerter Befund.
Die Menstruation müsse sehr viel offener behandelt werden, verdeutlichte die amtierende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses. In anderen Ländern werde über Menstruationsurlaube gesprochen, es stünden Periodenprodukte ganz selbstverständlich in der Öffentlichkeit zur Verfügung.
„Ich finde, diese Debatten sind es absolut wert, geführt zu werden“, sagte sie. In der deutschen Politik werde sich das noch zu wenig klar gemacht. Als Gesellschaft müsse sehr viel deutlicher in Richtung Enttabuisierung gegangen werden.
„Man behandelt den Tampon noch immer, als wäre er heiße Ware oder eine harte Droge“, bestätigte Jana Wittenzellner, stellvertretende Direktorin des Museums Europäischer Kulturen in Berlin und Kuratorin der aktuellen Ausstellung „Läuft. Die Ausstellung zur Menstruation“.
„Dabei haben wir gemerkt, dass bei unseren Besuchern ein riesiges Redebedürfnis besteht“, sagte sie. Vielen Frauen gebe die Ausstellung Anlass dazu, offen und ohne Peinlichkeit über die Menstruation zu sprechen, Sichtweisen und Probleme zu äußern und ins Gespräch zu kommen.
Ein Problem, warum Frauengesundheit so wenig thematisiert werde, sei auch die Lehre in den Schulen, wo die Grundlagen für spätere Gesundheitskompetenzen gelegt werden, gab Mandy Mangler, Chefärztin der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am Vivantes Klinikum Neukölln in Berlin, zu bedenken. Der weibliche Körper und die Menstruation würden im Schulunterricht viel zu wenig thematisiert, es gebe wenig Abbildungen einer realistischen weiblichen Anatomie.
Hinzu kämen die Medien, die Periodenblut in der Werbung etwa blau färbten und damit wirklichkeitsfern darstellten. „Scham klebt momentan noch an all diesen Themen, nicht nur an Wörtern wie Schamlippen oder Schamhügel“, sagte Mangler. Davon müsse man als Gesellschaft wegkommen.
Behandlung zyklusassoziierter Störungen
Mangler ging zudem darauf ein, dass bei der Behandlung zyklusassoziierter Erkrankungen in Deutschland nicht immer der beste Weg für die Frauen eingeschlagen werde. „In Deutschland operieren wir sehr gerne“, sagte sie und verwies auf die hohe Zahl der Hysterektomien im Vergleich zu anderen Ländern.
Oftmals seien gebärmuttererhaltende Methoden oder minimalinvasive Eingriffe schonender und darüber hinaus auch besser für die weibliche Sexualität. Diese Methoden einzufordern, sei Aufgabe der behandelnden Ärzte, aber auch der Gesellschaft, sagte Mangler.
Eine Hürde stellt Mangler zufolge auch das Abrechnungssystem dar. „Die Anreize für die Operation sind da, nicht aber für Alternativen“, gab sie zu bedenken. „Das ist schlecht für die Frauen." Es sei ein Fortschritt, dass inzwischen zumindest die Endometriumablation vergütet werde.
Um die Frauengesundheit in den Fokus zu rücken, müsse zunächst einmal mehr Normalität im Umgang mit der Periode in der Gesellschaft herrschen. Darin waren sich die Diskussionsteilnehmerinnen einig. Periodenprodukte in der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, sei etwa ein erster Schritt. Es würde etwa die Sichtbarkeit erhöhen und möglicherweise auch mehr Gespräche anregen.
Zudem müsse die Forschung gefördert werden, Daten erhoben und die Gender Data Gap damit langsam geschlossen werden.
Endometriose
Dass es wichtig ist, sich der Diagnostik und Behandlung frauenspezifischer Erkrankungen zuzuwenden, verdeutlichte auch Sylvia Mechsner, Gynäkologin und Leiterin des Endometriosezentrums der Charité, bei der Veranstaltung „Frauengesundheit endlich im Fokus“.
Sie verwies auf zunehmende zyklusassoziierte Erkrankungen und Störungen wie Hypermenorrhoe, Dysmenorrhoe, Endometriose und das Polyzystische Ovarialsyndrom. „Wir wissen, dass es Veränderungen im Gehirn gibt bei wiederkehrenden starken Regelschmerzen“, sagte Mechsner. „Das ist vielleicht auch ein Risikofaktor für die Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms“.
Bei vielen Erkrankungen, die Frauen häufiger als Männer beträfen, darunter Rheuma, Colitis Ulcerosa und Fibromyalgie, würde sich der Schmerz zyklisch verstärken. „Da fragt natürlich kein Gastroenterologe nach“, sagte Mechsner. „Der Zusammenhang von Schmerzen und Zyklus ist noch eine völlige Blackbox, dabei ist es ein wichtiges Forschungsthema“. Genderforschung bleibe von vielen Fachrichtungen bislang unberücksichtigt.
Oft hätten Frauen einen langen Leidensweg hinter sich, bis die Diagnose für eine zyklusassoziierte Erkrankung gestellt werde, so Mechsner. Insbesondere bei jungen Frauen würden starke Regelschmerzen häufig nicht ausreichend ernst genommen oder gar negiert. Die Einstellung der Gesellschaft spiele hier eine große Rolle, Sprüche wie „Stell dich nicht so an“, „Du willst schon wieder nicht am Sportunterricht teilnehmen“ und Ähnliches seien insbesondere für Mädchen problematisch.
„Heute wird die Diagnose für Endometriose bei Frauen im Schnitt im Alter von 34 Jahren gestellt“, sagte die Endometrioseforscherin. Die Frauen hätten dann schon jahrelang an starken Schmerzen und starker Regelblutung gelitten. Es gebe keine Männererkrankung, bei der die Diagnosestellung so lange dauern würde, betonte Mechsner.
Dafür müsse man sich als Arzt in vielen Fällen nur ausreichend Zeit nehmen, den Frauen zuhören und Erfahrung haben, um die Symptomatik einzuschätzen und die Puzzleteile richtig zusammensetzen zu können. „Es könnte so einfach sein“, sagte sie.
Abrechungsproblematik
Die Gynäkologin verwies in diesem Zusammenhang auch auf die Abrechnungsproblematik. „Ein Ultraschall gehört bei den niedergelassenen Gynäkologen nicht zur Regelversorgung“, erklärte sie. Hierfür stehe nur ein bestimmtes Budget zur Verfügung. In vielen Fällen komme der Ultraschall in den Praxen deshalb nur punktuell zum Einsatz.
Hinzu komme, dass für viele städtische Krankenhäuser, an die die Patientinnen verwiesen würden, nur Operationen, nicht aber eine multimodale Therapie vergütet werde. Mechsner wies darauf hin, dass letztere vor allem bei chronifizierter Schmerzsymptomatik der Endometriose wichtig sei. Bislang könnten diese aber nur universitäre Zentren verschreiben. Doch dort würden die Wartelisten auch immer länger.
Digitale Anwendungen
Um Frauen in ihrem Zyklus zu unterstützen und Unregelmäßigkeiten zu erkennen, werden digitale Anwendungen immer beliebter. Mechsner verwies dazu auf das MeMäF-Programm der Charité, das speziell für Mädchen und junge Frauen mit Menstruation entwickelt wurde. Dazu gehört eine Zyklusapp, die Informationen zu Menstruationsschmerzen bereitstellt.
Anwenderinnen sollen über einen Zeitraum von drei Monaten eintragen, wie sie die Schmerzen während ihrer Menstruation empfinden und werden bei starken Schmerzen zu einem Versorgungsprogramm mit Gynäkologen, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten und Ernährungswissenschaftler eingeladen. Dies sei eine wichtige Form der Prophylaxe, die weiter ausgebaut werden müsse, so Mechsner.
Ähnliche Anwendungen gibt es auch für Frauen in der Schwangerschaft und in der Menopause. Oft bleiben Frauen mit ihren Fragen und Problemen allein zurück, erzählte Julia Neumann, die eine App für Schwangere mitentwickelte. „Gut informiert haben Schwangere viel bessere Verläufe“, erklärte sie.
„Das Gesundheitssystem ist aktuell nicht in der Lage, Frauen ausreichend zu unterstützen“, sagte Valentina Ullrich von Frieda Health, einer App, die Frauen in den Wechseljahren Unterstützung bietet. Sie setzt sich dafür ein, dass digitale Angebote, die die Versorgung unterstützen könnten, für alle Frauen zugänglich gemacht werden.
Kristina Lütke (FDP), Mitglied des Gesundheitsausschusses im Bundestag, verwies auf die Verabschiedung des Digitalgesetzes und des Gesundheitsdatennutzungsgesetzes, mit dem man schon einen Schritt in die richtige Richtung gegangen sei. „Hier konnten wir eine Lücke schließen, die uns ins Hintertreffen gebracht hatte“, sagte sie.
„Wir erhoffen uns durch die Digitalgesetze im Gesundheitswesen einen Schub in Richtung Forschung, Entwicklung und Datennutzung“, so Lütke. Die Datennutzung sei für die Zukunft sehr wichtig. Hier gehe es auch darum, die Gender Data Gap auszugleichen. „Gerade mit Blick auf die Frauengesundheit kann das ein wichtiger Baustein sein“, sagte sie.
Darüber hinaus biete das Medizinforschungsgesetz die Möglichkeit, in Deutschland klinische Forschung – auch in Bezug auf die Frauengesundheit – durchzuführen. Es sei zudem gerade eine wichtige Haushaltsentscheidung gefallen, der Endometrioseforschung entsprechende Gelder zur Verfügung zu stellen, erklärte sie weiter.
Eine unbehandelte Endometriose ziehe schließlich nicht nur Folgeerkrankungen für die Frau nach sich, sondern wirke sich auch auf die Gesellschaft aus, so Lütke. Hier komme es zu vermeidbaren volkswirtschaftlichen Krankheitsausfällen.
„Es gibt viele Frauen, die durch die Endometriose nie ihr eigenes Leben leben können“, so Lütke. Die Aufmerksamkeit müsse sowohl politisch als auch gesamtgesellschaftlich sehr viel stärker auf die Frauengesundheit gelenkt werden.
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