Vermischtes

Gewaltbetroffene Kinder dürfen nicht durchs Raster fallen

  • Freitag, 10. Oktober 2025
/pegbes, stock.adobe.com
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Berlin – Im Kinderschutz ist in den vergangenen Jahren eine Menge passiert – doch medizinische, psychologische, pädagogische Fachkräfte und weitere beteiligte Berufsgruppen müssen wachsam bleiben, um Gewalt an Kindern und Jugendlichen weiter einzudämmen und auf Kinderschutznotfälle reagieren zu können. Darauf machten Experten gestern bei der Fachtagung der Kinderschutzhotline im Bundesfamilienministerium aufmerksam.

„Gewaltbetroffene Kinder dürfen nicht durchs Raster fallen, das ist unser Anspruch“, betonte Mareike Wulf, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFSFJ).

Die Identifizierung gefährdeter Kinder müsse möglichst frühzeitig erfolgen, damit sie rechtzeitig geschützt werden könnten und Auswirkungen auf die Entwicklung verringert würden. Damit dies gelinge, seien sowohl die Gesellschaft als auch die Politik gefragt.

„Wir sehen den großen Bedarf der Unterstützung“, sagte Wulf. Bis Ende August hätten allein bei der Kinderschutzhotline rund 12.000 telefonische Beratungen stattgefunden. Sie bezeichnete die Hotline als Erfolgsprojekt, in dem auch der Bund eine sinnvolle Rolle im Kinderschutz übernehmen könne.

Die gesetzliche Verankerung der Hotline über das Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen und die damit verbundene Verstetigung und finanzielle Sicherung seien sehr wichtig gewesen, um den Kinderschutz weiter zu stärken, so Wulf. Auch in finanziell herausfordernden Zeiten müsse die Verantwortung für betroffene Kinder dringend weiter übernommen werden, so die Staatssekretärin.

Kerstin Claus, unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen (UBSKM), betonte, dass die Verstetigung des Projekts ein Meilenstein sei. Mit der Beratung über die Hotline werde Fachkräften ein strukturiertes, vernetztes und ruhiges Handeln ermöglicht, das in Verdachtsmomenten unbedingt geboten sei. „Denn panische Reaktionen helfen Betroffenen nicht“, sagte sie.

Gerade bei sexualisierter Gewalt sei auf der helfenden Seite ein schrittweises und durchdachtes Vorgehen angezeigt. „Man möchte gerne schnell und sofort helfen. Aber die meisten Täter gehen hoch strategisch vor“, so Claus. Sexueller Missbrauch werde in aller Regel geplant, sodass auch das erwachsene Umfeld meist wenig davon mitbekomme.

Betroffene Kinder und Jugendliche befänden sich in einer hoch vulnerablen Lage, fühlten sich mitunter selbst schuldig, weshalb die persönliche Situation in jedem Schritt mit einbezogen und auf das Tempo der Betroffenen reagiert werden müsse. „Nur so gelingt eine gute Intervention“. In einem ersten Schritt sei es vor allem wichtig, Betroffenen Sicherheit zu vermitteln.

Kinderschutzfälle in der Notaufnahme erkennen

Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm, wies auf die Rolle der Notfallmedizin im Kinderschutz hin. Die Aufmerksamkeit für Kinderschutzfälle sei oft noch nicht ausreichend gegeben, sagte er. Doch es sei wichtig, dass Kinderschutznotfälle auch in den Notaufnahmen erkannt würden, damit entsprechend reagiert werden könne.

So könnten auch elterliche Indikatoren wie Intoxikationen, häusliche Gewalt oder Suizidversuche Hinweise auf Kindeswohlgefährdungen sein, denen nachgegangen werden sollte. „Es muss eine Gesamtperspektive auf die Familie eingenommen werden“, betonte Fegert.

In Kinderschutzfragen könnten sich Fachkräfte jederzeit an die Kinderschutzhotline wenden, die Rechte und Pflichten in Kinderschutzfällen rund um die Uhr vermittelten und in individuellen Fällen berieten. Wichtig ist dem Projektleiter der Kinderschutzhotline zufolge auch, dass der Rettungsdienst mehr Handlungsbefugnisse erhält, um auf Verdachtsfälle von Kindeswohlgefährdungen einzugehen.

In Paragraf IV des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG), der die Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdungen näher definiert, müsse der Rettungsdienst neben Ärzten, Psychologen, Beratern und anderen Fachkräften dringend aufgenommen werden, so der Kinder- und Jugendpsychiater.

Oliver Berthold, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Leiter der Kinderschutzambulanz der DRK Kliniken Berlin, erläuterte ausführlicher, bei welchen Anzeichen Rettungskräfte und Notfallmediziner bei Kindern und Jugendlichen aufmerksam werden sollten.

„Verlassen Sie sich nicht darauf, wenn Sie kein Hämatom sehen“, sagte er. In Kinderschutzfällen seien es eher seltener die blauen Flecken, die Besorgnis auslösten. Oft lieferten beispielsweise das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen oder die häusliche Umgebung entsprechende Hinweise.

Aufmerksam werden sollte man etwa, wenn das Verhalten des Kindes zu forsch, zu verängstigt oder zu erwachsen sei. Dies könne der Fall sein, wenn es das fremde Rettungsteam in der Wohnung vertrauenswürdig begrüße oder elterliche Aufgaben wie das Aufräumen der Wohnung oder das Trösten der Geschwister übernehme.

Lebten Kinder oder Jugendliche in einer verwahrlosten Wohnung, lägen Suchtmittel offen herum und hätten Kinder keinen eigenen Rückzugsort, sollten Rettungsteams ebenfalls aufmerksam werden.

Berthold erklärte, dass auch die Anamneseerhebung Aufschlüsse über einen Kinderschutznotfall geben könne. Würden Verletzungen oder Unfallhergänge von verschiedenen Bezugspersonen des Kindes unterschiedlich erklärt, fehlten Erklärungen, seien sie unplausibel oder passten nicht zum Entwicklungsstand, könnten dies ebenfalls Hinweise sein.

Körperlichen Befunden wie Hämatomen an untypischen Stellen, thermischen Verletzungen in einer bestimmten Form oder mit strenger Begrenzung, anogenitalen Verletzungen, einem stark kariösen Gebiss oder einem schlechten Pflegezustand sollte Berthold zufolge ebenfalls nachgegangen werden.

„Die Schäden, die wir als Medizinerinnen und Mediziner dadurch verhindern können, sind so groß wie andere zivilisatorische Erkrankungen“, betonte der Kinder- und Jugendmediziner.

Wie wichtig auch die Frühen Hilfen sind, um Familien rechtzeitig zu unterstützen und damit Kinderschutznotfälle zu verhindern beziehungsweise frühzeitig zu erkennen, darauf machte Mechthild Paul vom Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) aufmerksam. Ab der Schwangerschaft bis zum dritten Lebensjahr des Kindes könnten Familien passgenaue Hilfen vermittelt werden, die dann präventiv wirken könnten.

Die Kinderschutzhotline ist ein kostenfreies deutschlandweites telefonisches Beratungsangebot für Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen, der Kinder- und Jugendhilfe und den Familiengerichten bei allen Fragen zum Kinderschutz (0800/1921000). Geschulte Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeuten, Juristen und Sozialpädagogen beraten dort rund um die Uhr.

nfs

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