Psychiatrische Diagnose „Erfindungswahn“ im Kontext der Zeit

Berlin – Wie psychiatrische Diagnosen und der kollektive gesellschaftliche Zustand miteinander verwoben sind, zeigt die neue Sonderausstellung „Erfindungswahn! Das Segelluftschiff des ‚Ingenieur von Tarden“ im Berliner Medizinhistorischen Museum (BMM) der Charité.
Die Ausstellung startet mit der Krankenakte des Patienten A. R. aus dem Archiv der Charité und entfaltet seine Geschichte: Ein 35-jähriger Mann wird 1909 in der Psychiatrischen Klinik der Charité aufgenommen mit der Verdachtsdiagnose „Verfolgungswahn“. Er hatte sich aus dem Fenster eines Arbeitshauses in Berlin gestürzt, weil er dachte, er könne fliegen. Dabei brach er sich beide Beine. In der Klinik gibt der Mann, der eigentlich von Beruf Drechsler ist, sich selbst den Namen „Ingenieur von Tarden“, hebt sich also in den Adelsstand und in den Berufsstand der damals sehr angesehenen Ingenieure.
„Wir zeigen am Beispiel der Krankenakte des ‚Ingenieur von Tarden‘, wie Psychiatrie, Individuum und Gesellschaft miteinander verwoben sind. Von seinem Aufenthalt als Patient in der Psychiatrie von 1909 bis 1910 gibt es verschiedene Zeugnisse, die in der Krankenakte aufbewahrt wurden. So konnten wir uns anhand der zahlreichen Briefe an das Patentamt und an die ihn behandelnden Ärzte sowie der Skizzen seiner Erfindungen auf eine Spurensuche diesseits und jenseits der Anstaltsmauern begeben“, sagte die Leiterin des BMM, Monika Ankele, bei einem Presserundgang.
Unermüdlich arbeitet „Ingenieur von Tarden“ – Ärzte und Pfleger sprechen ihn auch so an – an seiner Erfindung: Ein Segelluftschiff, das ihm helfen soll, die Mauern der Psychiatrie zu überwinden. Die Ausstellung führt in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in der die Zeppelin-Euphorie ihren Höhepunkt erreicht und das erste Luftschiff am Himmel über Berlin fliegt. Technischer Fortschritt scheint unbegrenzt möglich und die Zahl der Erfindungen und Erfinderinnen nimmt rasant zu. Die Psychiatrie stellt mit dem „Erfindungswahn“ eine Diagnose, mit der sie nicht nur ein medizinisches Phänomen, sondern auch einen kollektiven gesellschaftlichen Zustand beschreibt.
Im Archiv der psychiatrischen Klinik der Charité sind Ankele zufolge „glücklicherweise“ alle Krankenakten von 1880 bis 1976 aufbewahrt. Sie seien auch gefüllt mit Briefen oder Zeichnungen, die die Psychiaterinnen und Psychiater zur Diagnosefindung nutzten. Im Falle des „Ingenieur von Tarden“ waren in der Krankenakte Modellskizzen von dem Segelluftschiff zu finden, denn er durfte mehrere Modelle in der Klinik bauen. Offenbar hat er dabei Hilfe von Pflegern erhalten, die auch ein gemeinsames Foto mit dem Segelluftschiff im Garten der psychiatrischen Klinik aufnahmen. „Alle hatten wohl Spaß an der Inszenierung“, sagte die BMM-Leiterin.
In eben diesen Patientengarten, der auch zur heutigen psychiatrischen Klinik gehört, können Ausstellungsbesucherinnen und -besucher schauen. Die 1905 errichteten historischen Gärten seien für die Patienten damals wie heute sehr wichtig; sie stehen unter Denkmalschutz.
Der Patient „Ingenieur von Tarden“ blieb 15 Monate in der Charité. Behandelt wurde er neben der heute wohl als Ergotherapie bezeichneten Beschäftigung des Modellbauens mit Morphium und Hyoscin, einem Beruhigungsmittel. „Die noch junge Disziplin Psychiatrie konnte damals noch keine eindeutigen Diagnosen stellen und kannte keine eindeutigen Behandlungen“, erläuterte Ankele. Der Patient wurde schließlich mit der Schlussdiagnose „Psychopathie der Konstitution“ entlassen.
In der Ausstellung werden Kunst und Medizin miteinander verbunden und künstlerisch-forschende Zugänge einbezogen: Die Rauminstallation des Künstlerkollektiv Mahony, die literarische Erzählung von Teresa Präauer durch Toneinblendungen und die Rekonstruktion des Segelluftschiffes durch Bernd-Michael Weisheit öffnen laut den Kuratoren „vielfältige Resonanzräume zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie Fantasie und Wirklichkeit“.
Die Sonderausstellung ist vom 7. März bis 30. November 2025 zu sehen im Berliner Medizinhistorischen Museum am Campus Charité Mitte, Charitéplatz 1 in 10117 Berlin, Virchowweg 17.
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