Ruf nach Maßnahmen zur Entstigmatisierung von psychischen und Suchterkrankungen

Berlin – Der Expertinnen- und Expertenrat „Gesundheit und Resilienz“ der Bundesregierung betont in seiner heute vorgestellten 10. Stellungnahme die Bedeutung der Entstigmatisierung als wesentlichen Bestandteil der Prävention und Gesundheitsförderung.
„Stigmatisierung von Menschen mit chronischen und akuten Gesundheitsproblemen stellt eine erhebliche Belastung dar, die über die eigentliche Erkrankung hinausgeht. Sie führt zu sozialer Ausgrenzung, erhöht die Krankheitslast und erschwert den Zugang zu diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen“ heißt es darin. Die Bekämpfung der Stigmatisierung sei daher eine notwendige, aber bisher vernachlässigte Form der Prävention und Gesundheitsförderung.
Psychische Störungen gehören demnach nach wie vor zu den am stärksten stigmatisierten Krankheiten. Die Fachleute verweisen auf die „The Lancet Commission on Ending Stigma and Discrimination in Mental Health“, die betont, dass das Stigma von vielen Betroffenen als schlimmer empfunden wird als die Erkrankung selbst und dass Stigmatisierung und Diskriminierung gegen grundlegende Menschenrechte verstoßen.
Gleichzeitig sei die Krankheitslast weltweit hoch, und es mangele an Präventions- und Versorgungsangeboten sowie an einem niedrigschwelligen Zugang zu diesen Angeboten. Auch Menschen mit Suchterkrankungen sind den Experten zufolge besonders stark stigmatisiert.
Der Handlungsbedarf sei in Bezug auf diese Gruppe angesichts der anhaltenden gesellschaftlichen Radikalisierungstendenzen und der zunehmenden Erfahrungen mit Verunglimpfungen, Beleidigungen und Gewalt in der Sprache hoch. Die Experten verweisen auf eine kürzlich veröffentlichte Resolution der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) gegen Ausgrenzung und für sozialen Zusammenhalt.
Die Evidenzlage zu den Kosten und Risiken des Alkoholkonsums ist der DHS zufolge eindeutig: Alkohol habe das größte Schädigungspotenzial und verursache die höchsten sozialen Kosten. Trotz dieser Evidenz habe Alkohol in Deutschland den Status eines Kulturguts und Genussmittels, was den Konsum verstärke und insbesondere für Heranwachsende problematisch ist. Der Konsum werde nicht nur gesellschaftlich akzeptiert, sondern bisweilen sogar zur „Bedingung“ für soziale Zugehörigkeit gemacht.
Dem Expertenrat zufolge erleben nicht nur Menschen mit einer Alkoholsucht Abwertung und Ausgrenzung, sondern auch jene, die nicht trinken. Für Letztere sei es oftmals nicht nur eine Herausforderung, dem kurzfristigen Benefit des Rausches oder einem Gruppenzwang zu widerstehen, sondern auch den sozialen Rechtfertigungsdruck auszuhalten, wenn man Alkohol ablehnt. Auch hier könne es zu psychischen Belastungssymptomen und sozialem Rückzug kommen, insbesondere bei Heranwachsenden.
Um Stigmatisierung entgegenzuwirken, empfiehlt der Expertenrat daher unter anderem die Entwicklung und Etablierung didaktischer Formate zur Förderung von Emotionsregulation und Lebenskompetenzen in Kitas und Schulen.
Weiter sollten demzufolge Fort- und Weiterbildungsangebote sowie Selbsterfahrung und Selbstreflexion stigmatisierender Haltungen in den Lehrplänen für den medizinischen und pflegerischen Bereich sowie in pädagogischen Ausbildungen verankert werden.
In besonders stigmasensiblen Settings wie Notaufnahmen, Pflegeeinrichtungen, Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste sollten mehr personelle und zeitliche Ressourcen bereitgestellt werden.
Im Gesundheitssystem sollten niedrigschwellige Informations- und Beratungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden für Menschen, die sich strukturell stigmatisiert fühlen.
In den sozialen Medien und Medien allgemein sollte für die Relevanz einer stigmatisierenden Darstellung von Menschen mit psychischen und Suchterkrankungen sensibilisiert werden.
Schließlich empfehlen die Experten, die Datenlage zu verbessern: stattfinden sollte die kontinuierliche Datenerhebung zu stigmatisierenden Haltungen und Erfahrungen von Menschen mit psychischen und physischen Erkrankungen. Außerdem fordern sie, die volkswirtschaftlichen Kosten der Stigmatisierung zu ermitteln sowie ein wissenschaftsbasiertes Monitoring der Entstigmatisierungsmaßnahmen.
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