SARS-CoV-2: Behandlung mit Remdesivir förderte Entwicklung neuer Varianten

Hamburg – Nicht die Immunschwäche, die bei einigen Patienten zu längeren Infektionen mit SARS-CoV-2 führt, sondern die virustatische Behandlung, die einen evolutionären Flaschenhals verursacht, könnte nach einer Studie in Cell Reports Medicine (2022; DOI: 10.1016/j.xcrm.2022.100735) für die Entwicklung neuer Virusvarianten verantwortlich sein.
Die häufigen Kopierfehler der RNA-Polymerase haben zur Folge, dass sich das Genom von SARS-CoV-2 ständig verändert. Die meisten Mutationen haben keine oder negative Auswirkungen auf die Fitness des Virus, so dass sie nach kurzer Zeit wieder verdrängt werden. In seltenen Fällen entsteht jedoch eine Variante mit erhöhter Infektiosität und/oder Pathogenität mit dem Potenzial, sich innerhalb weniger Monate weltweit auszubreiten.
Die meisten Virologen gehen derzeit davon aus, dass diese besorgniserregenden Virusvarianten (VOC) in Patienten entstehen, die aufgrund einer Abwehrschwäche über längere Zeit mit SARS-CoV-2 infiziert sind. Die lange Behandlungsdauer soll dazu führen, dass die VOC sich zunächst in einem Patienten ausbreiten, bevor sie dann auf andere Patienten übertragen werden.
Die wiederholten Genomsequenzierungen von SARS-CoV-2, die ein Team um Nicole Fischer vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf bei 14 Patienten durchgeführt hat, bestätigen diese Hypothese nicht. Die Patienten hatten sich vor der Alpha-Welle noch mit dem Wildtyp von SARS-CoV-2 infiziert.
Bei den Patienten lagen Begleiterkrankungen vor, die das Immunsystem schwächten, oder sie wurden wegen chronisch entzündlicher Erkrankungen mit Immunsuppressiva behandelt, die die Eliminierung der Viren erschwerten. Die Infektionen dauerten 30 bis 146 Tage, einer starb an COVID-19.
Bei allen Patienten kam es hin und wieder zu Mutationen, die Veränderungen blieben jedoch gering. Fischer spricht von einer niedrigen viralen Intra-Host-Diversität. Die einzige Ausnahme bildete eine 53-jährige Patientin, die wegen eines follikulären Lymphoms mit dem CD20-Antikörper Obinutuzumab behandelt worden war, der zur Zerstörung der B-Zellen führt.
Ohne die antikörperbildenden B-Zellen war die Immunabwehr deutlich geschwächt. Die Infektion konnte erst nach 90 Tagen durch einen zweiten Behandlungszyklus mit Remdesivir in Kombination mit 3 Serumtherapien (Infusion des Plasmas von Genesenen) gestoppt werden.
Nach dem 1. gescheiterten Remdesivirzyklus war es zur Bildung von mehreren Virusvarianten gekommen, die sich in der Folge bei der Patientin stark ausbreiteten. Fischer deutet dies als evolutionären Flaschenhals, ein Begriff aus der Populationsgenetik.
Er beschreibt dort die starke Ausbreitung von genetischen Merkmalen, zu denen es nach einem deutlichen Rückgang der Bevölkerung kommen kann. In der Medizin erklärt der evolutionäre Flaschenhals, warum es in bestimmten Gruppen zur Häufung von genetischen Erkrankungen kommt (etwa von Morbus Gaucher oder der Niemann-Pick-Krankheit Typ A bei Aschkenasim-Juden).
Bei SARS-CoV-2 erhöht ein genetischer Flaschenhals die Chancen, dass sich neue Varianten durchsetzen. Der breite Einsatz von Remdesivir und den neuen Virustatika Paxlovid oder Molnupiravir könnte deshalb die Entwicklung neuer Varianten fördern, befürchtet Fischer, vor allem wenn sie bei Hochrisikopatienten eingesetzt werden, die über längere Zeit infiziert sind.
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